Folter und Entführungen seien in der Ostukraine an der Tagesordnung, sagt die Menschenrechtsorganisation. Rebellen setzen Raketenwerfer ein

Kiew. Im bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine haben sich nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International sowohl prorussische Separatisten als auch Regierungssoldaten „gravierende Menschenrechtsverletzungen“ zuschulden kommen lassen. Aktivisten, Demonstranten und Geiseln seien nach eigenen Schilderungen auf „erschütternde“ Weise behandelt worden, heißt es in einem am Freitag veröffentlichten Amnesty-Bericht.

Vor allem die Separatisten nahmen laut Amnesty demnach zahlreiche Geiseln. Diese seien „oft brutal geschlagen und gefoltert“ worden. Allerdings seien auch aufseiten der regierungstreuen Kräfte Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Obwohl keine genauen Zahlen vorlägen, sei von Hunderten Entführungen auszugehen.

Opfer seien oftmals Zivilisten, erklärte Amnesty. Die Gewalt der bewaffneten Separatisten diene auch dazu, „die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und zu kontrollieren“. Die Erpressung von Lösegeld sei ebenfalls ein Motiv. „Die Angst vor Repressalien, Entführungen und Folter“ sei bei vielen Menschen im Osten der Ukraine „allgegenwärtig“.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko erklärte unterdessen seine Bereitschaft zu einer „beidseitigen Waffenruhe“. Er habe Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einem Telefonat versichert, dass er dafür offen sei, teilte das Präsidialamt am Freitag mit. Gleichzeitig habe Poroschenko in dem Gespräch betont, dass eine Kontrolle der Grenze zu Russland unerlässlich sei. Nur so könne ein Einsickern von Waffen und Kämpfern aus dem Nachbarland verhindert werden.

Nach Angaben aus Kiew erklärte Merkel, dass eine Überwachung der Grenze durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wegen der Kampfhandlungen derzeit nicht möglich sei. Die Bundesregierung teilte mit, „Gespräche der Kontaktgruppe aus Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE mit Vertretern der Separatisten“ seien „dringend notwendig“. Merkel mahnte Poroschenko demnach, „bei seinem legitimen Vorgehen gegen die Separatisten die Verhältnismäßigkeit zu wahren“.

Poroschenko hatte eine einseitige Waffenruhe in der vergangenen Woche für beendet erklärt. Das Militär setzte daraufhin seine Offensive gegen die prorussischen Separatisten fort. Die Regierungstruppen versuchen seit der Einnahme der Rebellenhochburg Slowjansk die strategisch bedeutsamen Großstädte Donezk und Lugansk einzukesseln, um die Aufständischen zu vertreiben. Am Freitag war unter anderem rund um den Flughafen von Donezk schweres Artilleriefeuer zu hören.

Die EU verhängte gegen elf weitere Separatisten Strafmaßnahmen. Sie werden mit Einreiseverboten belegt, mögliche Vermögen in der EU werden gesperrt. Damit sind insgesamt 72 Russen und Ukrainer von der EU mit Sanktionen belegt.

Russland forderte die EU auf, das Freihandelsabkommen mit der Ukraine auf Eis zu legen. Nach Gesprächen mit dem EU-Handelskommissar Karel De Gucht und dem ukrainischen Außenminister Pavlo Klimkin warnte der russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew, sein Land könnte sich gezwungen sehen, die Zollvereinbarungen mit der Ukraine neu zu bewerten, wenn das Abkommen in Kraft trete. „Leider verstehen unsere Kollegen nicht ganz die Dimension des Problems, mit dem wir uns konfrontiert sehen“, sagte Uljukajew. Das Freihandelsabkommen schaffe Risiken für Russland und solange diese nicht geklärt seien, sollte das Assoziierungsabkommen nicht in Kraft treten.

Die EU und die Ukraine hatten das Abkommen am 27. Juni unterzeichnet. Der frühere ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch hatte dem Vertrag seine Unterschrift verweigert, was letztlich im Februar zu seinem Sturz führte. Russland befürchtet unter anderem Nachteile für seine Wirtschaft, etwa beim Import von Waren aus der EU über die Ukraine.

Die ukrainische Armee hat bei ihrer „Anti-Terror-Operation“ gegen die prorussischen Separatisten schwere Verluste erlitten. Aufständische beschossen Regierungstruppen bei Selenopolje im Raum Lugansk und töteten mindestens 19 Soldaten. Die 24. Brigade aus Lwiw (Lemberg) und Teile der 79. Luftlandebrigade aus Nikolajew seien mit dem sowjetischen Mehrfachraketenwerfersystem BM-21 „Grad“ (Hagel) beschossen worden, teilten die militanten Gruppen mit. „Wir haben die Kolonne zerschlagen“, sagte einer der Kämpfer. Etwa 93 Armeeangehörige wurden verletzt.

Auf Bildern waren völlig zerstörte Panzer und tiefe Bombentrichter zu sehen. Die Führung in Kiew sprach von einem der verlustreichsten Tage für die Armee seit Beginn der Kämpfe Mitte April und kündigte Vergeltung an. „Für jedes Leben eines unserer Soldaten werden die Terroristen mit Dutzenden und Hunderten ihrer Leben bezahlen“, sagte Präsident Poroschenko.

Bei einem zweiten Raketenwerferangriff bei Lugansk starben vier Grenzsoldaten. Die Separatisten attackierten auch erneut Sicherheitskräfte rund um die Flughäfen von Lugansk und Donezk. Dabei setzten sie Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge ein. Die ukrainische Armee beschoss ihrerseits Stellungen der „Volkswehr“ aus der Luft. Bis zu 100 Separatisten seien innerhalb von 24 Stunden getötet worden, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Kiew.