Von heute an treffen sich die 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Belgien. Es geht um künftige Strategien – und um strittige Personalfragen

Brüssel. Im belgischen Ypern wird der Ort der Auseinandersetzung über die Zukunft Europas sein, und Ratspräsident Herman Van Rompuy hofft, dass das Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges an diesem Ort einer langen und verlustreichen Schlacht die 28 Staats- und Regierungschefs der EU eher eint als entzweit. Zum gemeinsamen Gedenken und zum Abendessen hat er nach Flandern eingeladen. In Brüssel tagt der EU-Gipfel dann erst am Freitag. Doch die Hoffnung auf Konsens und Einigkeit geht ins Leere.

Worüber sprechen die Regierungschefs?

Der EU-Gipfel soll zweierlei Ergebnisse bringen: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte, die Runde werde sicherlich „ein überzeugendes Paket aus inhaltlichen Prioritäten und ersten Personalentscheidungen“ schnüren. Mindestens der Präsident der nächsten EU-Kommission soll dann feststehen, ebenso wie die „strategische Ausrichtung“ der künftigen EU-Politik. Herman Van Rompuy hat sich für beides vorbereitet: Er hat mit allen Regierungen gesprochen, mit den Fraktionschefs im Europaparlament, allen voran den der beiden großen Fraktionen: mit Manfred Weber (CSU) für die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) und mit Martin Schulz (SPD) für die europäischen Sozialdemokraten. Er werde beim Gipfel einen Kandidaten vorschlagen, der im Parlament auf breite Unterstützung zählen könne, sagte er vergangene Woche.

Was beschließen die Regierungschefs?

Ein gemeinsames Dokument eines EU-Gipfels ist oft vage genug, um Raum für Interpretationen zu lassen. Fünf Punkte sollen es werden: „Stärkere Volkswirtschaften mit mehr Arbeitsplätzen“, heißt die erste Priorität laut dem Arbeitspapier Van Rompuys. „Gesellschaften, die Bürger schützen“, ist die zweite, die sich dem Kampf gegen Armut verschreibt. Eine „sichere Zukunft für die Energieversorgung“ gehört drittens zu den Prioritäten. Eine „Union der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit“ wollen die Staats- und Regierungschefs viertens bauen und sich fünftens zu „effektiverem gemeinsamen Handeln in der Welt“ verpflichten. Es geht also um die Wettbewerbsfähigkeit von Europas Staaten, um Hilfe für diejenigen, die unter der Krise am meisten zu leiden hatten. Um weniger Abhängigkeit von russischem Gas und eine Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Um welche Punkte gibt es Streit?

„Flexibilität“ ist das Zauberwort, hinter dem harte Auseinandersetzungen zwischen Verfechtern strenger Haushaltsdisziplin und Befürwortern von Wachstumsförderung mittels staatlicher Ausgaben versteckt werden können. Diese Debatte wird den Gipfel bestimmen. Aus sozialistisch regierten Staaten wie Frankreich und Italien kommt die Forderung nach mehr Spielraum für Wachstumspolitik. Sie wollen mehr Zeit beim Defizitabbau und versprechen im Gegenzug Reformen. Zudem wollen sie, dass bestimmte Ausgaben nicht auf das Defizit angerechnet werden, und sie machen einen Unterschied zwischen guten und schlechten staatlichen Investitionen. „Mehr Flexibilität“ heißt für sie: Weniger Strenge bei der Anwendung der geltenden Regeln. Die Verfechter der Stabilität, allen voran die Bundesregierung, lehnen eine Änderung des Paktes ab.

Wer kämpft gegen wen?

Der junge Regierungschef Italiens, Matteo Renzi, verspricht, die Reformen, die die EU-Kommission, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank seit Jahren von Italien wollen, endlich anzupacken. Renzi will dafür ein Ende des harten Sparens, das andere Länder durchhielten. Frankreichs Präsident François Hollande ist dabei an seiner Seite. Die Gegenspielerin ist die Bundeskanzlerin. Alle zusammen eint der Wunsch nach einer Mehrheit für ein Personalpaket und die Inhalte europäischer Politik – nur einer schert aus und stellt sich ins Abseits: David Cameron, der britische Premierminister.

Wird Juncker Chef der EU-Kommission?

Ja. Die sozialistischen Regierungschefs stehen geschlossen hinter dem Christdemokraten Jean-Claude Juncker. Eine überwältigende Mehrheit der Konservativen unterstützt den ehemaligen Premierminister aus Luxemburg ebenfalls. Wackelkandidat ist lediglich Viktor Orbán, der konservative Regierungschef von Ungarn. Nur David Cameron ist strikt gegen Juncker. Aber selbst dann, wenn sich Orbán dem britischen Premierminister anschließen sollte, würde das nicht verhindern, dass die Staats- und Regierungschefs Juncker dem EU-Parlament als „ihren“ Kandidaten vorschlagen. Im Parlament werden dann Konservative, Sozialisten, Liberale und Grüne für Juncker stimmen.

Warum sind die Sozialisten für Juncker?

Dass die sozialistischen Regierungschefs fest an der Seite Jean-Claude Junckers stehen, hat mehrere Gründe. Erstens: Anders als Kanzlerin Merkel haben sie von Anfang an akzeptiert, dass derjenige „Spitzenkandidat“ Kommissionschef werden soll, der die Europawahlen gewonnen hat. Das war Juncker. Zweitens: Die Sozialisten wissen, dass es im konservativen Lager niemanden gibt, der als Kommissionschef „sozialer“ eingestellt wäre als Juncker. Ein dritter Grund: Die Sozialisten haben einen Preis gefordert – und bekommen. Das sind zum einen Personalien, zum anderen inhaltliche Zugeständnisse beim Stabilitätspakt.

Wie wird sich Cameron verhalten?

Der britische Premierminister wird gegen Juncker stimmen, weil er ihn für eine schlechte Wahl hält. Laut Cameron verkörpert Jean-Claude Juncker eine Politik des „Weiter so“ und keinen Aufbruch. Cameron hat lange Zeit geglaubt, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Verbündete gegen Juncker zu haben. Die Kanzlerin änderte aber ihre Meinung. Jetzt hat der britische Regierungschef angekündigt, eine Abstimmung über Juncker zu beantragen. Ein Votum bei Spitzenpersonalien – das wäre ein Novum in der Runde der Regierungschefs.

Ist eine Niederlage für ihn gefährlich?

Nein. In Brüssel weiß jeder, dass David Cameron weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird. In Großbritannien könnte der Eindruck entstehen, dass der Premierminister in Brüssel isoliert ist und ihm diplomatisches Geschick fehlt. Insgesamt dürfte ihm seine störrische Haltung zu Hause aber nützen. Jean-Claude Junckers Ansehen in Großbritannien ist schlecht – da hilft es, wenn Premierminister Cameron behaupten kann, bis zuletzt gegen Juncker gekämpft zu haben.

Welche Jobs werden außerdem besetzt?

Neben dem Amt des Kommissionspräsidenten sind noch die Ämter des EU-Ratspräsidenten (die Nachfolge von Herman Van Rompuy), des EU-Außenbeauftragten (die Nachfolge von Catherine Ashton) und des EU-Parlamentspräsidenten zu vergeben. Im Sommer 2015 muss auch der Vorsitzende der Euro-Gruppe neu bestimmt werden. Formal entscheiden die „Chefs“ allein über den Posten des Ratspräsidenten und die 751 Abgeordneten eigenständig über den Präsidenten des EU-Parlaments, der mit großer Wahrscheinlichkeit für zweieinhalb Jahre wieder Martin Schulz (SPD) sein wird. In der Praxis werden aber alle wichtigen Jobs unter den Parteien ausgehandelt.