Eine Reise durch das Land zu den Brennpunkten des Nahost-Konfliktes. Pro Tag schießt die Hamas mehrere Raketen auf Israel. „Jeder Bürger hier weiß, wohin er sich in Deckung werfen muss.“

Der totenblasse Junge auf dem Bett ist etwa 13 Jahre alt. Ein Schlauch führt aus einer Luftröhre zu einem Beatmungsgerät; Kanülen stecken in seinen Armen. In tiefer Bewusstlosigkeit liegt der kleine Palästinenser in einem Bett der winzigen Intensivstation der Kinderabteilung im Barzilai Medical Center in Aschkelon. Die israelische Stadt liegt nur zwölf Kilometer entfernt vom Gazastreifen, in dem die radikalislamische Hamas herrscht, die sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben hat. Das Hospital mit seinen 532 Betten ist nicht nur für kranke Israelis eine Rettung; auch Palästinenser aus dem Gazastreifen kommen hierher – sofern die Hamas dies zulässt. „Der Junge ist in Gaza in einem Pool ertrunken und reanimiert worden“, sagt Dr. Ron Lobel, der stellvertretende Leiter des Krankenhauses. „Man hat ihn erst nach drei Tagen zu uns gebracht; wir wissen nicht, ob wir ihn noch retten können. Sein Hirn ist möglicherweise schwer geschädigt.“

Vor der Tür sitzt der Onkel des Jungen. Er springt jedesmal nervös auf, wenn ein Arzt aus dem Raum kommt. Manchmal dauert es nur Stunden, bis die Hamas einen Patienten über die Grenze lässt, manchmal ziehen sich die Verhandlungen jedoch über Wochen hin, und der Patient stirbt inzwischen. Auf der Kinderstation von Professor Bibi Haim arbeiten zwölf Ärzte, sieben von ihnen sind ethnische Araber.

Pro Tag schießt die Hamas mehrere Raketen auf Israel. Vor einiger Zeit zertrümmerte eine von ihnen das Dach des Barzilai-Hospitals und landete in einem Kinderbett. 90 Prozent des Krankenhauses sind nicht verbunkert. Lobel, der früher als Arzt in Gaza gearbeitet hat und Arabisch spricht, entging einmal nur knapp einem direkten Treffer, als er zu seinem Auto ging. „Zunächst war ich einfach nur glücklich, überlebt zu haben“, sagt er, „doch dann habe ich mich plötzlich übergeben. Und 24 Stunden später noch einmal. Wir alle hier leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) – wie Soldaten im Krieg. Wir leben in einem permanenten Alarmzustand.“ Der Schockraum im Barzilai mit seinen 20 Betten ist ständig überbelegt. Oft liegen hier Israelis, die von Raketensplittern getroffen wurden, direkt neben Palästinensern, die von israelischen Soldaten niedergeschossen wurden. Das ist der ganz normale Wahnsinn des Nahen Ostens.

Lobel, ein kluger Mann mit Harvard-Abschluss, ist 64 Jahre alt und sieht nicht jünger aus. Sein Privathaus steht auf einer Anhöhe nahe der Grenze; die Hamas nutzt es als Bezugspunkt für ihre Kassam- und Grad-Raketen. Aus seinem Badezimmerfenster sieht er immer wieder Raketen aufsteigen und auf die Stadt zufliegen. „Wir machen hier keine Notfall-Übungen. Wir leben jeden Tag im Notfall.“ Warum zieht er nicht weg? „Wo sollen wir denn hin?“, fragt der Arzt, „Das hier ist unsere Heimat. Israel ist viel zu klein zum Fliehen. Und abgesehen von den Raketen haben wir hier ein wundervolles Leben.“ In seinem Zimmer steht eine nicht explodierte Kassam-Rakete wie ein düsteres Mahnmal. In der Behandlung der Palästinenser aus dem Gazastreifen liegt jedoch auch ein Stück Hoffnung. Lobel zeigt das Foto einer Hamas-Parade in Gaza-Stadt. Ein Palästinenserjunge trägt eine PLO-Fahne – und dabei stolz ein Sweatshirt mit dem Logo des israelischen Fußballvereins Maccabi Tel Aviv. „Wir haben es ihm geschenkt – nachdem wir ihm das Leben gerettet hatten“, sagt Lobel. „Unsere palästinensischen Patienten reagieren zunächst oft mit Furcht und Unsicherheit, wenn sie hierherkommen. Später sind sie unsere besten Friedensbotschafter.“

Aschkelons Nachbarstadt Sderot liegt sogar unmittelbar am Gazastreifen. Sie ist die wohl gefährdetste Stadt in Israel. Allein an diesem Tag feuert die Hamas sechs Raketen auf Sderot ab; im Morgengrauen vier und am Nachmittag weitere zwei. Einige Schrapnelle landen auf Wohnhäusern. Zwei der Raketen werden vom hoch entwickelten israelischen Abwehrsystem „Iron Dome“ („Eiserne Kuppel“) abgefangen, die anderen schlagen im Meer oder auf offenem Feld ein. Fünf mobile Iron-Dome-Systeme sind ständig im Einsatz.

In Sderot sind alle Bushaltestellen massive Bunker; die meisten Häuser haben verstärkte Dächer, auf jedem Schulhof stehen mehrere Unterstände aus dickem Stahlbeton. Die Dächer des Sapir College, einer international angesehenen Fachhochschule für Logistik, Jura und Medienwesen, sind gepanzert. Ein Denkmal und ein Schutzraum stehen an der Stelle, an der 2008 eine Kassam-Rakete einschlug und einen Studenten zerfetzte. Bei der Hälfte der 7500 Studenten sind PTSD-Symptome festgestellt worden.

„Die Vorwarnzeit beim Abschuss einer Rakete aus dem Gazastreifen beträgt hier 15 Sekunden“, sagt Micky Rosenfeld, Superintendent der Polizei von Sderot. „Jeder Bürger hier weiß, wohin er sich in Deckung werfen muss, wenn der Alarm losgeht und er keinen Schutzraum mehr erreichen kann.“ Der gebürtige Brite Rosenfeld war Mitglied einer israelischen Spezialeinheit, bevor er zur Polizei ging. Auf dem Hof der Polizeistation von Sderot stapeln sich die Trümmer der rund einen Meter langen Kassam und der mehr als drei Meter langen Grad-Raketen. Eine Grad, die mehr als 50 Kilometer weit fliegen kann, trägt fünf Kilogramm Sprengstoff und ist mit Stahlkugeln aus Kugellagern gefüllt. Die Todeszone bei einem Grad-Einschlag hat einen Durchmesser von 100 Metern. „Seit 2001 sind mehr als 10.000 Raketen auf Sderot abgefeuert worden“, sagt Rosenfeld. Die ganze Stadt mit ihren 20.000 Menschen leidet unter PTSD-Syndrom. Ähnlich ist es in Aschkelon, wo die Vorwarnzeit ganze 30 Sekunden beträgt. Auf einer Anhöhe am Grenzzaun zum Gazastreifen weist Rosenfeld auf die mit Stahlseilen verankerten Beobachtungsballons hin, die aus großer Höhe mit Kamerasystemen das Gebiet der Hamas überwachen. „Bei einer Bedrohung kann Israel binnen weniger Minuten zuschlagen“, sagt er. Doch das ist dann in der Regel der Moment, in dem sich die Weltöffentlichkeit empört – nachdem sie den Raketenhagel der Hamas jahrelang stillschweigend hingenommen hat.

Westlich von Sderot beobachtet Major Liron W. von der israelischen Armee (IDF) das Grenzgebiet. „Hier gibt es jeden Tag gefährliche Vorfälle – das Leben hier ist nicht selbstverständlich“, sagt er nachdenklich. Manche Schmuggler-Tunnel, durch die die Hamas in diesem Gebiet Waffen und Terroristen transportiert, ziehen sich bis zu zwei Kilometer unter der Erde entlang. Der Blick geht hinüber nach Gaza-Stadt mit ihren fast 700.000 Menschen und nach Beit Hanun, einer 30.000-Seelen-Stadt im nordöstlichen Winkel des Gazastreifens. Dort ganz in der Nähe liegt der Grenzübergang Erez.

„Für mich ist die Situation hier normal“, sagt die 20-jährige Soldatin Sharon. „Doch wenn ich mit meinen Freunden im Ausland spreche, merke ich – das ist ja überhaupt nicht normal. Wenn ich im Ausland bin und irgendwo eine Sirene höre, denke ich: O Gott – bitte nicht wieder eine Bombe!“

Die rotblonde Chaya B., eine 26-jährige Unteroffizierin mit angerautem Armee-Charme und geradezu beängstigender Willensstärke, ist erst vor drei Jahren aus Deutschland nach Israel ausgewandert. Ihre Familie lebt nach wie vor in Köln. Chaya spricht außer Deutsch und Englisch ein akzentfreies Schnellfeuer-Hebräisch und lernt als Nächstes Arabisch. Die deutsche Jüdin ist nach Israel gezogen, um etwas für dieses Land zu tun. 20 Kilometer weiter südwestlich, nahe dem Kibbuz Kissufim, steht Leutnant Avidav B. auf der Patrouillenstraße am Grenzzaun zum Gazastreifen. Er demonstriert die Möglichkeiten einer „Straßendrohne“ der IDF.

Der „Guardian UGV“ ist ein schwer gepanzertes Fahrzeug, das außer Mikrofonen und Lautsprechern neun Kameras und ein starr eingebautes Maschinengewehr aufweist. Der „Guardian“ fährt den Grenzzaun entlang; seiner ausgefeilten Überwachungselektronik entgeht nichts. Ferngesteuert wird er aus einem Raum der Militärbasis direkt neben dem Kibbuz; an Bord ist niemand. Die Drohne kann Terroristen aufspüren und notfalls auch bekämpfen. Israel ist militärisch wie zivil ein Hightech-Land im Aufbruch.

Rund 230 Kilometer nordöstlich, an einem anderen aktuellen Brennpunkt des Nahost-Konfliktes, auf dem 1170 Meter hohen Berg Bental auf den Golan-Höhen, beobachtet der hochgewachsene Major B., den geladenen M-4-Karabiner umgehängt, aufmerksam den Grenzzaun nach Syrien. Aus dem Yom-Kippur-Krieg 1973 stehen hier oben noch alte Bunker. Einige Kilometer die gewundene Bergstraße zurück steht ein israelisches Panzerbataillon mit Merkava-Panzern in Bereitschaft. Das „Tal der Tränen“ zwischen dem Bental und dem Berg Hermon war 1973 Schauplatz einer der blutigsten Panzerschlachten der Geschichte. Von 160 israelischen Panzer blieben nur sieben unzerstört, aber sie vernichteten 600 der 1500 angreifenden syrischen Panzer. Die Syrer zogen sich zurück.

Am Fuße des Bental liegen die grünen Felder des Kibbuz Merom Golan und hinter dem Grenzzaun die verlassene syrische Geisterstadt Kuneitra, in deren Ruinen sich Rebellen und syrische Armee Kämpfe liefern. Das neue Kuneitra liegt einige Kilometer abseits. Direkt am Grenzzaun steht eine winzige Basis der Uno-Truppe Undof; ausrichten kann sie hier aber nur wenig.

Ein paar Tage später wird genau hier ein arabisch-israelischer Junge von einem syrischen Raketenschützen getötet werden. Die israelische Luftwaffe fliegt daraufhin Angriffe auf syrische Stellungen. Und in der Grenzregion zum Gazastreifen verstärken Armee und Polizei derweil ihre Straßenkontrollen, nachdem mutmaßlich die Hamas drei israelische Jugendliche entführt hat. Es ist der ganz normale Wahnsinn im Nahen Osten.