Festnahmen, Einschüchterung, Zensur: China macht zum 25. Jahrestag des Massakers auf dem Tiananmen mobil

Peking. „Liusi (der 4. Juni) steht vor der Tür. Polizeispitzel überwachen und kontrollieren mich. Ich darf nicht mehr raus, wegfahren oder Reden halten ... Wu Lihong.“ Der Umweltaktivist vom ostchinesischen Taihu-See teilt in seiner SMS-Kurznachricht schlicht mit, dass er unter Hausarrest steht. Seit 15 Jahren führt er einen friedlichen Ein-Mann-Protest gegen die Behörden, um einen der größten Süßwasserseen des Landes vor den Abwässern der Chemieindustrie zu schützen. Das macht ihn in den Augen der Polizei zum gefährlichen Dissidenten – besonders vor dem 4. Juni.

Chinas Machtorgane sind nervös, besonders in Peking. Es steht ein sehr kritischer Gedenktag an: Heute vor 25 Jahren befahl die Parteiführung dem Militär, den größten Massenprotest der neueren chinesischen Geschichte mit Waffengewalt zu beenden. In der Nacht zum 4. Juni 1989 bis zum Morgen richtete die Volksbefreiungsarmee ein Massaker an, als sie sich den Weg durch die Stadt zum Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) freischoss und die dort campierenden Studenten zum Abzug zwang. Der Name Tiananmen wurde zum Synonym einer zu allem bereiten Staatsmacht gegen das eigene Volk, das Massentöten zum Kainsmal der Volksrepublik. Die Stadtverwaltung von Peking sprach nach dem Einsatz von 241 Toten. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu mehreren Tausend Toten aus.

Die Ungewissheit über die Zahl der Opfer ist Teil des Verdrängungsprozesses. Über die Ereignisse vor 25 Jahren berichtet kein Schulbuch. Für Medien ist die Erinnerung daran tabu. Staatliche Zensoren blockieren Suchbegriffe im Internet wie „4. Juni“ ebenso wie listige Umschreibungen wie „35. Mai“. Die Kontrollen sind schärfer als in den vergangenen Jahren, die Furcht vor neuen Massenprotesten offenbar groß. Peking setze alles daran, „die Erinnerung an die Ereignisse von 1989 aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen“, befindet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Viele Chinesen seien präventiv verhört, unter Hausarrest gestellt oder verhaftet worden.

Die Regierung kämpft an zwei Fronten und baut Peking zum Bollwerk aus. Es gilt, den Gedenktag, der keiner sein soll, friedlich und möglichst unbemerkt vorbeigehen zu lassen. Nach diversen Anschlägen und Selbstmordattentaten geht es der Führung aber auch darum, das Land vor der Gewalt uigurischer Islamisten zu beschützen. Parteichef Xi Jinping ordnete wortgewaltig ein „himmelweit reichendes Abwehrnetz“ an, was ahnen lässt, dass er auch Luftabwehr und Kampfjets in Alarmbereitschaft hält. Peking hat sich selbst in den Ausnahmezustand versetzt, es herrscht Alarmstufe eins. Täglich patrouillieren fünf Hubschrauber auf 18 Routen über der Stadt. An wichtigen Kreuzungen stehen Polizeiwagen. Im Straßenverkehr fahren offene Jeeps mit schwerbewaffneten Milizen. Tausende Polizisten sichern Metrostationen und kontrollieren Fahrgäste.

Auf den Straßen weichen die Pekinger eingeschüchtert aus, wenn sie den neu armierten Polizeistreifen mit ihren 650 Schäferhunden begegnen. Nur die „Beijing Youth Daily“ traute sich, einige kritische Fragen zu stellen. „Auch für Polizisten muss es für den Gebrauch der Waffen Regeln geben. Sie dürfen nicht wild um sich schießen, auch nicht im Kampf gegen den Terrorismus.“ Die modernen Wasserwerfer aber, die die Polizei vorführt, taugen nicht für die Terrorismusbekämpfung. Die dreieinhalb Meter hohen Ungetüme schießen aus Hochdruck-Kanonen 15 Tonnen Wasser pro Fahrzeug. Peking demonstriert damit Stärke, verweist gern auf volle Arsenale von Tränengas-Granaten, Gummigeschossen und Elektroschlagstöcken. Ältere Pekinger denken an die absurden Enthüllungen Li Pengs vom 1. Juli 1989 zurück.

Damals traf der Premier, der neben dem heimlichen Oberkommandierenden Deng Xiaoping einer der Hauptverantwortlichen für den Armeeeinsatz war, den chinesischstämmigen US-amerikanischen Bürgermeister Daniel K. Wong. Li rechtfertigte sich knapp einen Monat nach dem Massenmord auf dem Tiananmen: „Unsere Soldaten wollten kein Blut vergießen. Aber sie hatten keine Wasserwerfer, nicht genug Tränengas oder Gummigeschosse.“

Doch das Massaker war weder eine Verkettung von Missverständnissen noch Mangel an Polizeiausrüstung, wie es Li damals darstellte. Aus den nach Hongkong geschmuggelten Memoiren des früheren Parteichef Zhao Ziyang, der den Armee-Einsatz abgelehnt hatte und daraufhin vom Politbüro entmachtet wurde, geht hervor, dass die vielen Menschen wegen falscher Beschlüsse sterben mussten. Es war falsch, die Armee gegen die Bürger einzusetzen, um die Autorität der Partei gewaltsam wieder herzustellen. Der einstige Polizeiminister Wang Fang berichtet in seinen Memoiren, dass Li Peng am 17. Mai, also zwei Tage vor der Verhängung des Kriegsrechts, die Entscheidung im Politbüro durchgesetzt hatte. Li aber wollte nicht den Sündenbock geben, und so schrieb er 2004 für das Parteimagazin „Qiu Shi“ (Tatsachen) einen Aufsatz, in dem er versuchte, die gesamte Verantwortung auf Deng abzuwälzen.

Der Aufsatz löste in hohen Parteikreisen Verstörung aus, weil Li die Schuldfrage stellte. Der Text war offenbar als Vorwort für sein autobiografisches Buch gedacht, das der akribische Tagebuchschreiber unter dem Titel „Ein kritischer Moment – 15. April bis 24. Juni 1989“ geschrieben hatte. Doch zur Veröffentlichung des Buches kam es nicht. Das Politbüro verbot die Freigabe. Das wurde Anfang 2010 bekannt, als eine von Li weder autorisierte noch als echt bestätigte Kopie in die Hände eines Hongkonger Verlegers gelangte.

Pekings langer Arm zwang den Verlag, alle gedruckten Exemplare einzustampfen. Nach einer im Internet bekannt gewordenen Fassung soll Li um den 19. Mai herum notiert haben, dass er „auf Weisung Dengs das Kriegsrecht verhängt“ habe und Deng der Armeeführung befohlen habe, keine Rücksicht zu nehmen und Todesopfer in Kauf zu nehmen. Li thematisiert wiederholt die Untergangsängste in der Partei: „Was jetzt in Peking passiert ist der größte Aufruhr seit Gründung der Volksrepublik. Unser Kontrollverlust ist schlimmer als in der Kulturrevolution.“

Pekings Führung wusste um das Verbrechen, das sie mit dem Armeeeinsatz auf sich geladen hatten und verboten jede Debatte. Chinas neue Führung unter Parteichef Xi verschärft diesen Kurs noch. Als sich 15 Intellektuelle und Anwälte im Mai zur Aussprache über die Bedeutung des 4. Juni in einer Privatwohnung verabredeten und Fotos online stellten, statuierte die Polizei ein Exempel. Fünf Teilnehmer, darunter der Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang, der Philosoph Xu Youyu und die Internetdissidentin Liu Di, wurden festgenommen unter der grotesken Anklage öffentlicher Unruhestiftung.

Kein Zwischenruf aus Peking zum 4. Juni darf sich Gehör verschaffen. Nach dieser Devise sind noch mehr prominente Aktivisten von der Polizei vor die Wahl gestellt worden, die Metropole für die kritische Zeit zu verlassen oder unter verschärftem Hausarrest isoliert zu werden. Auch Ding Zilin und ihr 80-jähriger Mann „verreisten“ wieder. Ex-Professorin Ding, deren 17-jähriger Sohn von der Armee erschossen wurde, ist Gründerin der Hinterbliebenenbewegung „Mütter des Tiananmen“. Ihre Angehörigen-Initiative fordert alljährlich Chinas Führer auf, den 4. Juni neu zu bewerten. Ihre erschossenen Kinder sollen rehabilitiert werden, so wie alle anderen Opfer. Auch nach einem Vierteljahrhundert verschweigt die Regierung die Zahl der Getöteten. Sie gilt als Staatsgeheimnis.

Die Lage ist dermaßen gespannt, dass auch ausländische Medien einen Maulkorb erhalten. Die Polizei lud in den vergangenen Tagen mehr als ein Dutzend Korrespondenten vor, um sie zu bedrohen, während Videokameras ihre „Belehrung“ festhielten. Sie dürfen für Recherchen den Tiananmen in der Zeit um den Jahrestag nicht ohne Genehmigung eines speziellen Verwaltungskomitees betreten. Sie sollen am besten gar nicht berichten, sonst müssten sie mit ernsten Folgen rechnen. Die Polizei ist für die jährliche Verlängerung der Journalisten-Visa zuständig. Der Auslandskorrespondentenclub (FCCC) verurteilte „die zunehmende Schikane und Einschüchterung ausländischer Medien und ihrer lokalen Mitarbeiter vor dem 25. Jahrestag“.

Die Staatssicherheit zieht die Zügel weiter an. Chinas Zensur blockierte die TV-Übertragung der BBC, während das britische Weltprogramm live einen Nachrichtenbericht über den Tiananmen ausstrahlte. Da Peking den Empfang des Livestreams in China technisch um wenige Sekunden verzögert, bleibt seinen Kontrolleuren Zeit, Beiträge gezielt auszublenden.

Die geschwärzte BBC-Reportage recherchierte das Schicksal des einstigen Fabrikarbeiters Miao Deshun, dem wahrscheinlich letzten Gefangenen unter den 1600 Chinesen, die nach 1989 verurteilt wurden. Nach Angaben der US-Gefangenenhilfe „Dui Hua“ (Dialog), die informelle Kontakte zu den Justizbehörden unterhält, soll Miao beim Truppeneinmarsch einen Brandsatz geworfen haben. Er wurde zum Tode verurteilt, doch das Urteil wurde später zu einer lebenslangen Haftstrafe umgewandelt und 1998 auf 20 Jahre Haft verkürzt. Opfer der Zensur wurde auch Ezra Vogel, renommierter China-Experte der Harvard-Universität, dessen 2011 erschienenes Buch über Deng Xiaoping selbst von Peking als wichtiges ausländisches Werk anerkannt wurde. Das hinderte die Zensoren nicht, in der 2013 erschienenen Übersetzung das von Vogel umfangreich verfasste Kapitel, wie es zur „Tiananmen-Tragödie“ kam, auf wenige Seiten zusammenzustreichen und Fakten zu verfälschen.

Die offizielle Parteimeinung geht davon aus, dass zu der damals richtigen Beurteilung des 4. Juni als Aufruhr und zu den „Maßnahmen, mit denen er unterbunden wurde“, heute nichts mehr zu sagen sei. Zumindest solange, wie die immer korrekte Partei in China das Sagen hat. So ähnlich sah es 1989 auch Egon Krenz, damals zweiter Mann in der SED hinter Erich Honecker, als er meinte, es sei „etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen“.