25.000 Polizisten bei Kundgebungen zum Jahrestag der Gezi-Proteste im Einsatz. 120 Festnahmen

Istanbul. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht, eine Neuauflage der Gezi-Proteste zum Jahrestag ihres Beginns zu verhindern. Erdogan drohte unverhohlen, wer sich an Demonstrationen beteilige, müsse mit Gewalt der Sicherheitskräfte rechnen. Der Regierungschef führte eine ganze Streitmacht ins Feld, um Proteste im Keim zu ersticken: 25.000 Polizisten waren allein in Istanbul im Einsatz. Mehr als 120 Menschen wurden festgenommen.

Polizisten in Zivil prügelten mit Schlagstöcken auf Demonstranten ein, Uniformierte setzten Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse ein – auch in der Hauptstadt Ankara, auch am Sonntag. Aus den Reihen der Protestierenden wurden Polizisten mit Steinen und Flaschen beworfen. Auf beiden Seiten gab es Verletzte, Hunderte Demonstranten wurden festgenommen. Der Jahrestag wurde zur Machtdemonstration Erdogans – und ließ erkennen, wie geschwächt seine Gegner sind.

In der Umgebung des Istanbuler Taksim-Platzes kam es zu den befürchteten schweren Zusammenstößen. Die Polizei ging gewohnt brutal vor – und lieferte wieder Bilder von Polizeigewalt, die seit einem Jahr das Türkei-Bild in der Welt prägen. Eine internationale Blamage leistete sich die Polizei, als sie den CNN-Korrespondenten Ivan Watson und sein Team am Rande des Istanbuler Taksim-Platzes festsetzte – vor laufender Kamera. Die Polizei setzte alles daran, zu verhindern, dass Demonstranten auf den Platz vordringen. Der Platz im Herzen der Stadt und der Gezi-Park, von dem die Proteste vor einem Jahr ihren Lauf nahmen, wurden ein weiteres Mal abgeriegelt.

Doch nicht nur die Polizei geht rabiat vor – auch aufseiten der Demonstranten hat die Gewaltbereitschaft in den vergangenen zwölf Monaten zugenommen. Vielen von ihnen scheint es nicht vorrangig um mehr Demokratie, sondern um Straßenschlachten mit der Polizei zu gehen. Auch Molotowcocktails gehören inzwischen zum Repertoire der Aufrührer. Hoffnungen in Teilen der Bevölkerung, aus der Gezi-Protestbewegung könnte eine politische Alternative zu Erdogan erwachsen, haben sich nicht erfüllt.

Stattdessen hat Erdogan die Proteste genutzt, um seinen autoritären Kurs zu verschärfen und das Land weiter zu polarisieren. Seine Anhänger, die in den Demonstranten gefährliche Unruhestifter sehen, hat er hinter sich geschart. Dass seine islamisch-konservative Partei AKP bei der landesweiten Kommunalwahl vor zwei Monaten die mit Abstand stärkste Kraft wurde, gibt ihm zusätzlichen Rückenwind. Nichts deutet darauf hin, dass Erdogans Macht wankt. Im Gegenteil: Erwartet wird, dass er sich im August zum Staatspräsidenten wählen lassen wird. Letztlich dürfte vielen Türken wirtschaftliche Entwicklung wichtiger sein als eine funktionierende Demokratie. Deren Verwirklichung traut kaum jemand den Oppositionsparteien zu.