Jeden fünften Sitz im neuen EU-Parlament gewinnen Parteien, die die Gemeinschaft in ihrer jetzigen Form ablehnen. Warum das einzigartige Projekt in vielen Mitgliedsländern so umstritten ist

Für Millionen Menschen in Europa ist die Europäische Union zu einer Bedrohung geworden. Sie fürchten, die Unabhängigkeit ihrer nationalen Kulturen und Wirtschaftssysteme könnten von dem Moloch aus Brüssel in den Boden gewalzt werden; einem monströsen Gewächs aus überteuerter Bürokratie und zwanghafter Regelungswut. Sie machen die EU verantwortlich für den Niedergang der heimischen Wirtschaft. Zwar besetzen die vehementen Kritiker der bisherigen EU-Politik nach den Wahlen zum Europäischen Parlament nur rund ein Fünftel der Sitze. Doch gemessen einerseits an der Feindseligkeit mancher dieser Parteien gegenüber der Union und andererseits an den Ansprüchen des Mega-Projekts Europa ist der Anstieg der Europahasser ein höchst dramatisches Signal. Die Europawahl hat deutlich gemacht, dass das einzigartige Projekt der europäischen Einigung gefährdet, zumindest umstritten ist.

Europa – das war jahrhundertelang das vielleicht blutigste Schlachtfeld der Erde. Bis zu 20 Millionen Tote kostete der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918. 55, vielleicht sogar 60 Millionen Menschen verschlang der Zweite Weltkrieg; beide gingen von Europa aus. Und zuvor, 1618–1648, hatte der Kontinent bereits ein 30 Jahre währendes Blutbad hinter sich, dem in Deutschland bis zu einem Drittel der Einwohner zum Opfer fielen. Territoriale Machtgier und übersteigerter Nationalismus waren die Hauptursachen. Es ist eigenartig und auch bestürzend, dass viele Menschen die Europäische Union einfach nicht als größtes und erfolgreichstes Friedensprojekt der Geschichte zur Kenntnis nehmen wollen. Noch nie hat zwischen den mächtigsten Nationen des Kontinents ein so langer Frieden geherrscht. Gemein ist den Populisten von links bis rechts, dass sie nationale Eigensüchtigkeiten in den Vordergrund rücken.

Die etablierte Elite der EU-Staaten hat ohne Frage Fehler gemacht; und die Brüsseler Bürokratie neigt wie allerorten dazu, sich pilzgeflechtartig auszubreiten und ihre Existenzgrundlage durch das Erfinden immer neuer Regelungen zu sichern. Das geplante und zum Glück verworfene Verbot von Olivenölkännchen gehört ebenso dazu wie das Verbot von Glühbirnen oder ärgerliche neue Regelungen für Staubsauger. Doch haben die Populisten recht mit ihrer fundamentalen Kritik an Einwanderung, Bürokratie; überteuerten Abgeordneten etc.? Der „Stern“ hatte dies zur Wahl untersucht – und beispielsweise den Verwaltungsaufwand für die 1,2 Millionen Einwohner der Stadt München denen Brüssels gegenübergestellt, das für 500 Millionen Menschen zuständig ist. 32.000 Beamte arbeiten in München, 60.000 in Brüssel; 30 Prozent des Budgets verschlingt die Münchner Verwaltung, nur sechs Prozent die Brüsseler. Ein EU-Parlamentarier erhält 8020 Euro samt Zulagen, ein Bundestagsabgeordneter 8260 Euro. Die Ausgaben der Bundesbürger für die EU betrugen 2012 gerade einmal 146 Euro pro Kopf; billiger kann ein Friedensprojekt für eine halbe Milliarde Menschen kaum noch sein. Die EU hat das Fliegen durch die Liberalisierung des Luftverkehrs billiger gemacht, eine europaweite Krankenversorgung ermöglicht, Mindeststandards bei Lebensmitteln eingeführt, die Rechtssicherheit vieler Menschen verbessert und vieles mehr.

Die britische Ukip gewinnt mit der Forderung nach Austritt aus der EU

Und doch fordert die britische Anti-EU-Partei Ukip rundheraus den Austritt aus der Union – und gewann damit die Europawahl in Großbritannien mit Abstand. Die rechtspopulistische Ukip unter ihrem umtriebigen Vorsitzenden Nigel Farage konnte ihr Ergebnis der Wahl von 2009 von 16,5 Prozent nun auf rund 28 Prozent steigern und liegt damit mehrere Punkte vor der Labour-Partei.

Farage, der ohnehin nicht für falsche Bescheidenheit bekannt ist, sprach von einem „Erdbeben“ in der britischen Politik und forderte nicht nur den Austritt seines Landes aus der EU: „Ich will, dass Europa die Europäische Union verlässt.“ Der Druck von Ukip war zuletzt schon so groß geworden, dass Premierminister David Cameron für 2017 ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft versprochen hat.

Man mag die eine oder andere britische Besonderheit zu den Gründen des Ukip-Erfolges zählen, wohl auch einen nie überwundenen Phantomschmerz der Briten über den Verlust ihres Empires. So will die Ukip, die United Kingdom Independence Party, eine Freihandelszone für das „Commonwealth of Nations“ errichten, die britischen Verteidigungsausgaben um schwindelerregende 40 Prozent steigern und mit der „Abschaffung politischer Korrektheit“ eine einheitliche britische Kultur fördern. Das klingt bekannt – eine russische Version dieses Programms betreibt Wladimir Putin gerade. Doch ein zentrales Element bei Ukip wie auch bei den anderen populistischen Parteien in Europa ist der „Stopp einer unkontrollierten Einwanderung“. Es ist die übliche Widersprüchlichkeit national-populistischer Parteien: Zum einen schwelgen ihre Anhänger in der Perspektive, dass Großbritannien – nicht zuletzt durch starke Zuwanderung – Deutschland in 20 Jahren als bevölkerungs- und wirtschaftsstärkstes Land der EU ablösen könnte, zum anderen sehen sie in dieser Zuwanderung den Untergang ihres Landes.

Schwacher Präsident in Paris stärkt Front National

Das Konzept des Multikulturalismus wird strikt abgelehnt – so wie dies in Frankreich auch der rechtsnationale Front National (FN) tut, der dort mit rund 25 Prozent ebenfalls den Wahlsieg errang. Der Front National hat damit unter seiner Vorsitzenden Marine Le Pen zumindest diesem Wahlergebnis nach endgültig den Sprung von einer faschistoiden Splittergruppe zu einer Volkspartei geschafft. Marine Le Pen hat die Partei in den öffentlichen Äußerungen weitgehend von antisemitischer und fremdenfeindlicher Hetze gesäubert, die noch die Ära ihres Vaters und Parteigründers Jean-Marie Le Pen charakterisierte, eines rechtsextremen Veteranen der Kriege in Indochina und Algerien, der die eigenhändige Folterung von Gefangenen öffentlich rechtfertigte. Seiner ungleich maßvolleren Tochter gelang die „Dediabolisation“, die Entteufelung, des Front National und nun, nach ihrer Einschätzung, der Aufstieg zur „Ersten Partei Frankreichs“.

Der Erfolg des FN war aber letztlich nur möglich einerseits durch eine teilweise verfehlte Einwanderungspolitik, zum anderen durch die schwache Leistung der etablierten Eliten, vor allem des jetzigen Präsidenten François Hollande. Dessen Vorgänger Nicolas Sarkozy hatte den rechten Rand noch einbinden können, indem er etwa äußerte, die aufrührerischen Vorstädte mit dem „Kärcher“ reinigen zu wollen. Diese Banlieues, in denen mehrheitlich vernachlässigte muslimische Einwanderer wohnen, waren häufig Schauplatz wütender Straßenaufstände. Die dort spektakulär gescheiterte Integration ist einer der stärksten Motoren des Rechtsrucks in Frankreich. Auch in Sarkozys Partei UMP sind inzwischen Positionen wie jene, dass Frankreich an zu viel Kriminalität und zu viel Einwanderung leide, hoffähig geworden. Die Ex-Kandidatin der Sozialisten und amtierende Umweltministerin Ségolène Royal, ehemals Lebensgefährtin von Premier Hollande, mit dem sie vier Kinder hat, nannte den Wahlsieg des FN einen „Schock für die Welt“.

Es waren aber nicht zuletzt die Sozialisten, die mit ihrer Weigerung, harte Reformen nach dem Vorbild Deutschlands vorzunehmen, die Wirtschaftskrise in Frankreich erheblich verschärft haben. Krisen dieser Art treffen vor allem den einfachen Bürger und führen traditionell zu dem Gefühl, die guten Arbeitsplätze würden von Ausländern okkupiert. Zugleich heißt es jedoch, die Einwanderer plünderten die Sozialkassen aus. Eines davon geht nur.

Griechenland überlebt mit Europas Hilfe – und gibt ihm die Schuld an der Misere

Ähnliche Ängste führten auch in jenem europäischen Land, das nur am Tropf der EU überlebte, aber ausgerechnet dieser die Schuld an der eigenen Misere anlastet, in Griechenland nämlich, zu einem Wahlsieg der Europakritiker. Hier ist es die linksradikale Syriza, die mit 26 Prozent gewann, während die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte fast 10 Prozent erhielt. Die traditionelle Parteienlandschaft Griechenlands mit der jahrzehntelangen Rivalität von Konservativen und Sozialisten ist zerfetzt. Es hat wenig Auswirkungen, dass weder Linke noch Rechte irgendwelche Lösungen für die Bewältigung der verheerenden Wirtschaftskrise anzubieten haben; es reicht, einfach gegen EU und Etablierte zu sein. Wenigen der nationalbewussten Protestwähler ist vielleicht klar, dass die Krise in Griechenland vor allem durch Misswirtschaft, Korruption, Steuerhinterziehung und maßloses Über-die-Verhältnisse-Leben so dramatisch wurde. Es ist angenehmer, die Ursachen bei der EU und ganz allgemein im Ausland zu suchen, als sich harten Wahrheiten und harten Schnitten zu stellen.

Es ist ein Kuriosum: Die Griechen können nur in Europa gesunden – und lehnen es dennoch ab. Das Problem ist zudem, dass die gemäßigten politischen Kräfte in Griechenland derzeit auf dem Rückzug sind – doch mit radikalen Positionen kann man zwar polarisieren und Protestwähler anlocken, aber keine erfolgreiche Politik betreiben. Brüssel ist ein Sündenbock, auf den man sich rasch einigen kann. „Wir stimmen für eine neue Machtstruktur in einem Europa, das am Scheideweg steht“, hat Syriza-Chef Alexander Tsipras gesagt. Doch wie diese Struktur genau aussehen und wie sie funktionieren soll, wird nicht mitgeteilt. Der Protest gegen die EU bleibt substanziell im Ungefähren.

„Wohlfahrts-Chauvinismus“ beschert der dänischen Folkeparti 23 Prozent

Die dänischen Wähler waren in einer ungleich luxuriöseren Position als die Griechen. Das skandinavische Land ist reich und erfolgreich, die Menschen zahlen brav ihre Steuern und gehören zu den am wenigsten korrupten Völkern der Erde. Dennoch wurde die rechtspopulistische Dansk Folkeparti (DF), Dänische Volkspartei. mit rund 23 Prozent stärkste Kraft des Landes bei der Europawahl. Die regierenden Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt kamen auf gut 20 Prozent. Auch in Dänemark spielte ein Unbehagen über die arrogante EU-Bürokratie eine Rolle; vor allem aber die Einwanderung. Dabei hatte die etablierte Politik schon seit Längerem auf den Druck der DF reagiert und die Integrationsgesetzgebung wesentlich verschärft. Immerhin arbeitete die DF im Parlament zwischen 2001 und 2011 mit der liberal-konservativen Minderheitsregierung eng zusammen. Die DF wird im Gegensatz zum französischen Front National oder gar der griechischen Goldenen Morgenröte zu den gemäßigten rechtspopulistischen Parteien in Europa gezählt.

Die DF grenzt sich klar von rechtsextremen Positionen und Parteien ab; allerdings ist ihre Einstellung zum Islam äußerst kritisch. Politikwissenschaftler erfanden für dieses politische Programm, das eine offensive Verteidigung des eigenen hohen Lebensstandards und nationaler Fürsorge mit einer Einwanderungsfeindlichkeit verbindet, den Begriff „Wohlfahrts-Chauvinismus“. Man kann davon ausgehen, dass eine derart gemäßigt rechtspopulistische Position breite Wählerschichten auch in anderen EU-Staaten ansprechen würde.

Mit gut 43 Prozent Wahlbeteiligung gingen ähnlich viele Wähler zur Urne wie 2009. Der befürchtete Abwärtstrend ist damit zwar zunächst gestoppt, das Interesse der Bürger an Europa scheint nicht noch geringer geworden zu sein. Doch es sieht so aus, als gehe dies vor allem auf jene Protestwähler zurück, die zur Europawahl strömen, um Europa abzuwählen. Die etablierte Politik sollte diesen scharfen Warnschuss nicht ignorieren. Es gilt, die Politik der EU bürgernäher zu gestalten und auch besser zu erklären. Wenn EU-Politiker als abgehobene Elite wahrgenommen werden, kann das nicht nur eine Fehlwahrnehmung der Bürger sein. Als historisch beispielloses Entwicklungsprojekt für Frieden und Wohlstand ist die Europäische Union unentbehrlich. Während ihre Kritiker sich alle Mühe geben, die komplizierte Konstruktion zugunsten nationaler Lösungen niederzureißen, beneiden uns weite Teile der Welt um die Erfolge der EU.