Präsidentenwahl in einem zerrissenen Staat. Im Osten herrschen Gewalt und Chaos. Im Westen Frieden und Euphorie. Unterwegs mit OSZE-Beobachter Jürgen Klimke aus Hamburg

Es ist still und heiß, als Jürgen Klimke im Schatten der Bäume vor der Schule seine Kreuzchen macht. Agitieren Parteien im Wahllokal? Nein. Sind die Schlangen von Menschen davor lang? Nein. Versucht jemand, zweimal hintereinander zu wählen? Nein. Sind die Urnen sachgemäß versiegelt? Ja.

Der Kontrollbericht der internationalen Wahlbeobachter ist zwei Seiten lang. Eine gute halbe Stunde hat Klimke eben gemeinsam mit Teamkollegin Katja Keul in ihrem ersten Wahllokal an diesem Tag verbracht. Jürgen Klimke ist Politiker aus Hamburg-Wandsbek und sitzt für die CDU im Bundestag. Keul kommt aus Niedersachsen und ist Abgeordnete der Grünen. Heute bilden Schwarz und Grün eine Koalition. Die beiden Politiker sind an diesem sonnigen Tag in Lwiw unterwegs, der größten Stadt im Westen der Ukraine. Fast 800.000 Menschen leben hier, 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat Klimke und Keul geschickt. Mit mehr als 1000 Mitarbeitern überwacht die OSZE die Präsidentenwahl in der Ukraine. Bis zuletzt war unklar, ob es diese Wahl überhaupt geben wird.

Es ist erst ein paar Minuten her, da stand Klimke im schmalen Flur der Schule zwischen den Wahlkabinen und den Urnen und sagte, dass das so nicht gehe. „Das müssen wir monieren.“ Die mülltonnengroßen Wahlurnen sind aus durchsichtigem Plastik. Gerade hat eine Frau ihren Stimmzettel eingeworfen und nicht gefaltet. Wer sie beobachtet hat, sah, dass sie für den aussichtsreichen Kandidaten Petro Poroschenko gestimmt hat. Mehrere Wähler werfen die Bögen nicht gefaltet in die Urne, Umschläge gibt es nicht. Ist die Wahl nicht geheim? Klimke will mit der Leiterin des Wahllokals sprechen.

Im 1200 Kilometer entfernten Donezk haben alle Wahlbeobachter der OSZE die Stadt verlassen, die Lage ist zu gefährlich. Bei Gefechten in den vergangenen Wochen starben im Osten des Landes mehr als 100 Menschen. Viele Wahllokale haben nicht einmal die Unterlagen erhalten, weil die ukrainische Armee die Kontrolle über die Regionen an prorussische Milizen verloren hat. Im Radio läuft gerade die Nachricht über eine Bombendrohung. Klimke und Keul bekommen von all dem nichts mit. Lwiw ist so friedlich wie Bochum oder Lübeck bei einer Bundestagswahl. Und die beiden Deutschen fragen gerade nach, wie viele Frauen in den Wahllokalen mitarbeiten und ob alle Helfer pünktlich erschienen sind.

Die Ukraine ist gespalten. Sie war immer schon ein Land mit zwei vereinten Hälften – dem russischsprachigen Osten, geprägt von schwerer Industrie, und dem Westen, national gesinnt, orientiert an EU und Nato. Lwiw, das sagt ein Bericht der OSZE, sei „das Herzstück des ukrainischen Nationalismus“. Doch die Ukraine droht zu zerfallen. Viele in Lwiw fürchten, dass nach der Krim auch der Donbass, die Region um Donezk, an Russland fällt. Diese Präsidentenwahl, sagt eine ältere Frau vor dem Wahllokal, sei die wichtigste in den mehr als 20 Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie wählen die Zukunft der Ukraine. Und ihre Zukunft sehen die meisten Menschen in Lwiw in Europa. Möglichst weit weg von Wladimir Putins Russland.

„Putler“ hat jemand an eine Hauswand geschmiert, eine Mischung aus Putin und Hitler. Ein Souvenirgeschäft am Marktplatz bietet Aufkleber an, die zum Boykott von Waren der „russischen Besatzer“ aufrufen. Draußen laufen Frauen in bunten Volkstrachten über den Marktplatz, ein paar Männer tragen die Uniform der ukrainischen Freiwilligenarmee, die im Zweiten Weltkrieg für die Unabhängigkeit des Landes kämpfte und zeitweise mit den Nationalsozialisten gegen die Rote Armee der Sowjetunion kollaborierte. Die Männer in den Uniformen animieren Passanten zu einem Foto. „Slawa Ukraina“, rufen sie. Es lebe die Ukraine. Nationalstolz mischt sich in Lwiw mit Kommerz und Touristenattraktion.

Im Bericht der OSZE, den Klimke und Keul vor ihrer Beobachtermission erhalten hatten, merkt die Organisation an, dass prorussische Präsidenten-Kandidaten vor der Wahl keine Werbung im Fernsehen gezeigt haben. Nur in einem Bezirk der Stadt habe ein prorussischer Kandidat Plakate aufgehängt. Nicht einmal Wahlkampfbüros von ostukrainischen Politikern gebe es in Lwiw. Die extrem rechte und nationalistische Partei Swoboda schneidet in Lwiw bei Wahlen traditionell besonders stark ab. Ihr Spitzenkandidat für das Präsidentenamt kommt aus dieser Stadt. Die internationalen Beobachter blicken besorgt auf die Gewalt und die Toten in Donezk und Lugansk. Doch wie frei und fair laufen die Wahlen im antirussischen Westen des Landes ab?

Der Fahrer hat den CDU-Mann Klimke und die Grünen-Frau Keul gerade an einem Wahllokal in einer Technischen Hochschule in Lwiw abgesetzt. Über alte Betontreppen gehen die beiden in den Raum für die Stimmabgabe. „Die Wahllokale sind nicht behindertengerecht“, sagt Keul. Darüber hätten sich auch schon Wahlleiter beschwert. Die Wahlkabinen sind mit Tüchern gelb und blau zugehängt, den Nationalfarben der Ukraine.

Auf einer Bank daneben sitzen ein junger Mann und eine junge Frau. Sie seien Wahlbeobachter von der Partei der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, sagen sie. Es ist nicht nur die OSZE vor Ort. In fast jedem Wahllokal, das Klimke und Keul besuchen, sitzen Kontrolleure der Parteien. Die beiden sind keine Mitglieder von Timoschenkos Partei. „Aber sie ist eine Frau, die viel Erfahrung in der Politik hat. So eine brauchen wir jetzt in Zeiten der Krise“, sagt der Mann. Geld würden sie nicht bekommen für die Wahlbeobachtung. Es gehe ihnen darum, mit einer fairen Wahl ein Zeichen zu setzen für eine demokratische Ukraine. Deshalb hätten sich sämtliche Parteien im Westen des Landes mit hitzigen Parolen im Wahlkampf zurückgehalten – nicht nur die prorussischen.

Wer durch Lwiw spaziert, sieht kaum Wahlplakate, auch nicht von Poroschenko oder Timoschenko. „Es geht nicht darum, welcher Kandidat sich gegen wen durchsetzt“, sagt der junge Wahlbeobachter der Timoschenko-Partei. Es gehe um die Ukraine. Der Präsident ist für sie ein Symbol für Stabilität, die sie sich im Land wünschen.

Schon morgens, bevor die Wahllokale öffneten, warteten Menschen in Lwiw vor der Tür, in Kiew registrierten sich so viele Wähler, dass sie vereinzelt mehrere Stunden anstanden, heißt es. Nie seien Frust und Ärger der Menschen über die politische Elite größer gewesen als jetzt, sagt ein Mann in einem Wahllokal. Noch nie beteiligten sich laut Umfragen so viele Menschen an der Wahl. Die Ukrainer tragen ihre Wut mit an die Urnen – auch die über Putin. In Lwiw hatten bis zum frühen Mittag fast 20 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Im ostukrainischen Distrikt Lugansk konnten bis dahin überhaupt nur in zwei von zwölf Kreisen die Wahllokale öffnen. Zu instabil war die Sicherheitslage in den anderen Distrikten.

Jürgen Klimke ist wie die meisten Wahlbeobachter am Freitagmorgen in die Hauptstadt Kiew gereist. Im Konferenzsaal eines Hotels hören die OSZE-Mitarbeiter den Vertretern aller großen Parteien zu, sie stellen Fragen an den Landeswahlleiter, sie diskutieren mit Journalisten. Dann kommt kurz Hektik auf. Eine Nachricht macht die Runde: Hacker sollen die Software der ukrainischen Wahlkommission lahmgelegt haben. Der Wahlleiter beruhigt. Alles sei unter Kontrolle, die Sicherheitsdienste hätten einen Virus ausfindig gemacht – den nur eine „sehr gut entwickelte und hoch technisierte Industrienation“ erfinden könne. Das Wort „Russland“ nimmt er nicht in den Mund. Und dennoch wissen alle OSZE-Beobachter, was die ukrainischen Offiziellen von dem Cyberangriff halten.

Ein Team von 15 OSZE-Mitarbeitern ist seit einigen Wochen im Land und bereitet die Beobachtermission vor. Auch das EU-Parlament und die Nato haben Kontrolleure geschickt, 3000 sind insgesamt im Land. Die Staatschefs des Westens, allen voran Kanzlerin Angela Merkel, wollen, dass die Wahl unter Bedingungen stattfindet, die keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ergebnisses aufkommen lassen – alles andere wäre ein Desaster im diplomatischen Ringen mit Russland. Diese Wahl muss gelingen, trotz des Krieges im Osten. Trotz der wohl 15 Prozent Ukrainer, denen die Wahl durch Panzer und Straßensperren verwehrt ist. Eine Ukraine ohne einen vom Volk gewählten Präsidenten ist nicht eingeplant in der Strategie des Westens. Das weiß auch die OSZE.

Klimke sagt: „Heiß ist hier nur das Wetter. Die Wahl läuft gut organisiert ab.“ Er gehe da auch nach seinem Bauchgefühl. Keul sagt: „Man merkt die Routine beim Managen von Wahlen.“ Mehr als ein Dutzend Wahllokale werden Klimke und Keul an diesem Wahltag beobachten. Klar, sagt Klimke, das seien nur Stichproben. Aber immerhin würden sie ohne Vorwarnung kontrollieren. Ein Mitarbeiter der Wahlkommission hatte vor der Wahl gesagt, dass der Vorsprung des Favoriten Poroschenko so groß sei. Da helfe auch kein systematischer Wahlbetrug anderer Politiker mehr.

Ernsthaft bemängelt haben die beiden Deutschen in Lwiw nur die durchsichtigen Urnen. Die Wahllokalleiter vor Ort sagen ihnen, dass eine durchsichtige Urne Transparenz schaffe. Klimke sagt: „Bei uns wäre das verfassungswidrig.“ Der Hamburger hat schon zehn Abstimmungen beobachtet, war in Mazedonien, Georgien, Kirgistan und den USA. In Weißrussland sei kurz vor Schließung der Wahllokale noch eine ganze Busladung von Wählern zur Urne gekarrt worden. Wo die herkamen, habe er nicht erfahren. „Karussell-Wählen“ nennen die Ukrainer das, erklärt Klimkes Fahrer. Aber das gebe es heute nicht mehr. Jedenfalls nicht hier, im Westen des Landes.