Der türkische Ministerpräsident greift bei seinem Auftritt in Köln seine Kritiker in der Türkei und im Ausland scharf an

Köln. Es ist ohrenbetäubend laut in der Halle. Man kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Menschenmenge lässt sich immer wieder zu frenetischem Jubel anstacheln. Der Moderator ruft in die Massen, die etwa 15.000 Anwesenden antworten noch lauter im Chor. „Türkiye, Türkiye“ und „Recep Tayyip Erdogan“. Allerdings ist der, um den es geht, noch gar nicht da. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

Wenige Kilometer entfernt demonstrieren rund 30.000 Gegner des Ministerpräsidenten. Auf ihren Plakaten sieht Erdogan wie ein Monster aus. Sie nennen ihn einen „Diktator“ und „Mörder“. Doch hier in der Halle ist Erdogan eine Lichtgestalt. Seine Anhänger kritisieren die Presse, all die negativen Artikel über Erdogan und die Türkei. Die Berichte seien nicht objektiv, meinen sie. Es gebe „Hetzkampagnen“. Erdogan sei unschuldig. Der türkische Premier muss hier keinen mehr überzeugen. Nur bestärken. Als Anlass für die Versammlung wurde das zehnjährige Bestehen der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) gewählt. Die Organisation ist ein Zweig von Erdogans Regierungspartei AKP. Die UETD hat das Programm geändert. Das geplante Konzert fällt wegen der 307 Todesopfer beim Grubenunglück in Soma aus. Nun gibt es eine Schweigeminute und Bittgebete.

Die ersten provokanten Akzente setzt der UETD-Vorsitzende Süleyman Celik. Er betont, dass Erdogan sehr beliebt sei. „An dieser Stelle möchte ich das Verhalten mancher vorurteilsbehafteter Menschen verurteilen, die vor dem Deutschlandbesuch des Ministerpräsidenten Äußerungen getan haben, die mit der deutschen Gastfreundschaft unvereinbar sind“, sagt Celik. Er meinte damit diverse Spitzenpolitiker, die den Auftritt von Erdogan als Provokation und Affront gewertet hatten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den türkischen Amtskollegen ermahnt, sich maßvoll zu äußern. „Wir möchten betonen, dass wir jegliches maßloses Verhalten im Rahmen unserer demokratischen Rechte zurückweisen“, setzt Celik nach.

Es ist das Entree für Erdogan selbst. Der Ministerpräsident ist ein geschickter Redner. Erdogan spricht über die Sehnsucht nach der Heimat. Er will das Herz treffen, möglichst tief. Erdogan braucht diese Sehnsucht, denn rund 1,5 Millionen in Deutschland lebende Türken dürfen in der Türkei wählen. Am 10. August kann das Volk erstmals direkt über den türkischen Staatspräsidenten abstimmen; dafür werden auch in Deutschland Wahlurnen aufgestellt. Erdogan erklärt genau, wie sie wählen können. Er hält sich weiterhin bedeckt, ob er die Nachfolge von Staatspräsident Abdullah Gül antreten will.

In Köln demonstriert Erdogan aber auch seine berüchtigte Härte, die seine Anhänger an ihm schätzen. Er sieht sich von einer Verschwörung bedroht. Immer wieder attackiert er „diese Kreise“ und „arrogante Gruppen“, die angeblich Unfrieden stifteten. Er betont, dass man nicht vor den Gegnern zurückweichen werde.

Dann kritisiert Erdogan die deutschen Medien, erntet lautes Buhen, ebenso als er den Namen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nennt. Im nächsten Atemzug allerdings dankt er Merkel für ihre Anteilnahme und Unterstützung bei der Bewältigung des Grubenunglücks und erhält prompt Applaus. Man merkt, dass Erdogan auf die internationale Kritik reagiert. Vor allem ist es ihm in Köln ein wichtiges Anliegen, seine Betroffenheit über die mehr als 300 Todesopfer beim Grubenunglück in Soma zu demonstrieren. Es sei ein „tragisches Unglück“ geschehen, betont er und fügt hinzu: „Ich war in den Minen. Ich weiß, wie es dort zugeht.“ Erdogan räumt freilich keine Fehler ein, sondern behauptet, dass seine Gegner versuchten, das Unglück „auszuschlachten“ und der Regierung zu schaden. Er fühle sich jedoch durch die Kommunalwahl am 30. März bestätigt, bei der seine Partei AKP stark abgeschnitten hatte. „Mein Volk hat die beste Lektion am 30. März erteilt“, sagt Erdogan an die Adresse seiner Kritiker.

Beim Thema Integration betont der Premier seinen bisherigen provokanten wie widersprüchlichen Standpunkt. Er wirbt für die Integration der in Deutschland lebenden Türken, aber „ohne Assimilation, ohne Zugeständnisse“. Erdogan ist ohnehin der Ansicht, dass die Türkei einen prägenden Einfluss auf ganz Europa haben sollte. Er strebt weiterhin eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union an. Sein Land sei ein „Gegengift“ für ein Europa, das immer mehr von Rassismus geprägt werde. Der Premierminister hebt hervor, dass sich unter seiner Führung die Türkei von den Schulden befreit habe. „Die Türkei ist nicht mehr die Türkei von gestern. Ihr seid Angehörige einer großen Nation“, sagt Erdogan. Er hat über eine Stunde geredet. Am Ende der Sehnsuchts-Show legt er noch besonders viel Pathos in seine Stimme, als er sagt: „Eine Nation, eine Heimat, eine Fahne, ein Staat.“ Nach sechsstündiger Dauer gehen die Anwesenden heim. Erdogans Worte hallen noch nach.