Proteste auch in Istanbul und Izmir. Nach dem Grubenunglück in Soma gehen Ordnungskräfte hart gegen Demonstranten und Kritiker vor

Soma. Es war vielleicht ganz passend, dass der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Beispiele aus dem 19. Jahrhundert heranzog, um zu „beweisen“, dass Bergwerkstragödien wie die von Soma „ganz normal“ seien. Auch seine Reaktion auf die Geschehnisse stammt aus Vorzeiten: Damals schlug man Proteste der Bergarbeiter, wie sie nach solchen Unglücken oft entstanden, meist mit brachialer Gewalt nieder. Genauso verfährt die Regierung mit den Überlebenden der Katastrophe, ihren Verwandten, Bekannten und Freunden, mit der ganzen Stadt.

Deren Zufahrten werden von Polizei-Checkpoints kontrolliert, nachdem die Polizei am Vortag mit rücksichtsloser Gewalt gegen die trauernde Stadtbevölkerung vorgegangen war. Mehrere Tausend hatten ihrer Wut über die Fehler und vor allem das fehlende Mitgefühl der Regierung freien Lauf gelassen. Die Führung antwortete mit Wasserwerfern, Tränengas, Gummiknüppeln, Plastikgeschossen und Festnahmen.

Das Gouverneursamt der Provinz Manisa, zu der Soma gehört, verkündete, man werde keinerlei „illegale Demonstrationen“ dulden (aber laut Verfassung ist Demonstrieren auch ohne polizeiliche Erlaubnis ein Grundrecht der Bürger). 15 Rechtsanwälte einer Organisation namens Vereinigung zeitgemäßer Rechtsanwälte (CHD) wurden geschlagen und festgenommen.

Sie waren nach Soma gekommen, um den Familien der Opfer kostenlos Rechtsbeistand zu leisten. Zusammen mit festgenommenen örtlichen Bürgern wurden sie in eine zum vorübergehenden Gefängnis umfunktionierte Sporthalle geworfen, wo sie sich nur mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Armen bewegen durften.

Auch in Istanbul kam es zu Polizeigewalt und Festnahmen, als Demonstranten versuchten, Kerzen zum Gedenken an die Opfer anzuzünden. In Izmir wird seit Tagen protestiert und demonstriert, dort gehörte zu den zahlreichen Festnahmen auch ein zehnjähriger Junge – ihn ließen die Polizisten wieder frei, nachdem nicht nur umstehende Passanten, sondern auch einige Polizistenkollegen einschritten.

Rechtsverfahren der Opfer gegen die Regierung oder die mit der Regierung politisch eng verbundenen Betreiber der Mine, das will man in Ankara bestimmt nicht sehen. Stattdessen wurde eine religiöse Eingreiftruppe entsandt: Staatliche Imame sollen den Menschen einreden, ja nicht zu protestieren, sondern sich still in ihr Schicksal zu fügen und zu beten.

Es war vor allem die unmittelbare Reaktion der Staatsmacht nach dem Desaster, welche die Wut der Betroffenen anstachelte. Ministerpräsident Erdogan und seine Begleiter schimpften und schlugen auf unzufriedene Bürger ein – das Ganze wurde sogar in Bild und Ton festgehalten, sodass sich die Empörung schnell multiplizieren konnte.

An mehreren Universitäten des Landes haben Studenten ihren Campus aus Protest gegen die Vorgänge um Soma besetzt. Die Entwicklung ist für die Regierung deswegen brisant, weil sich in weniger als zwei Wochen der Beginn der Gezi-Park-Proteste vom vergangenen Sommer jährt. Beobachter erwarten massive Demonstrationen im ganzen Land, und wenn bis dahin die Soma-Aktionen und Proteste nicht nachlassen, könnte sich eine schwer berechenbare Protestdynamik ergeben.

Die türkische Regierung hat eine Untersuchung zum Unglück von Soma eingeleitet. Am Sonntag wurde schließlich von 18 Festnahmen berichtet, unter den Verhafteten seien auch fünf Betreiber der Mine. Zudem sei der Eingang zum Stollen zubetoniert worden.

Zuvor hatte wenig darauf hingedeutet, dass die Ermittlungsbehörden tatsächlich tätig würden. „Mit Blick auf den Vorfall gibt es keine Nachlässigkeit“, erklärte Hüseyin Çelik, stellvertretender Vorsitzender der Regierungspartei AKP. Die Mine in Soma sei „seit dem Jahr 2009 elfmal gründlich überprüft worden“, sagt er. „Lasst uns aus diesem Leid lernen und unsere Fehler berichtigen. Aber jetzt ist nicht die Zeit, einen Sündenbock zu suchen.“

Keine Nachlässigkeiten? Die Weltpresse eilte nach Soma, und was die Bergleute erzählen – aber auch, was die Geschäftsleitung eingesteht –, ist haarsträubend. Sicherheitsinspektionen drangen demnach nie bis in die tieferen Stollen des Bergwerks vor. Sauerstoffmasken, sofern überhaupt welche verteilt wurden, seien „alt und seit Jahren nicht mehr gecheckt“ worden, ob sie funktionierten. Viele überlebende Kumpel berichteten, der Sauerstoff habe statt der vorgesehenen 45 Minuten nur für 20 oder 25 Minuten gereicht. Aber viele der Toten seien gestorben, weil sie gar keine Masken hatten.

Die weitgehend unter politischer Kontrolle stehende Justiz hat eine ganze Gruppe von Staatsanwälten mit Ermittlungen zum Hergang und zu den Verantwortlichkeiten des Grubenunglücks beauftragt. Geleitet wird sie türkischen Medienberichten zufolge jedoch von einem treuen AKP-Anhänger. Auch auf politischer Ebene wird es Untersuchungen geben, die AKP sprach sich für entsprechende Schritte im Parlament aus.

Da aber der Regierungssprecher bereits zu „wissen“ scheint, dass es „keine Nachlässigkeiten“ gab, dürfte das Ergebnis dieser „Untersuchungen“ schon feststehen. Interessanter ist ein vorläufiger Untersuchungsbericht, aus dem die Tageszeitung „Milliyet“ zitierte. Schwelende Kohle brachte demnach die Decke eines Stollens zum Einsturz. Dem Bericht zufolge seien die Stützpfeiler lediglich aus Holz und nicht aus Metall gewesen, und es habe nicht genügend Kohlenmonoxidsensoren gegeben.