Außenminister Steinmeier wirbt in Kiew für runden Tisch, doch dessen Vorsitzender ist noch immer nicht gefunden

Kiew/Odessa. Eilig betritt der amtierende ukrainische Präsident den Kaminsaal im Kiewer Parlament. Eine gelbe Kladde pfeffert Alexander Turtschinow auf den Tisch. Dann reicht der Mann im blau karierten Sakko Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Hand. Auf mächtigen Sesseln nehmen die Männer Platz, endlich kann ihr Gespräch beginnen. Ursprünglich war es schon für 12 Uhr angesetzt gewesen. Turtschinow aber bat darum, es zu verschieben – wegen einer wichtigen Sitzung mit den Fraktionsvorsitzenden, heißt es. Der Gast aus Deutschland disponiert deshalb um. Früher als geplant spricht der Bundesaußenminister mit den Leitern von zwei hier ansässigen Missionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Dennoch muss Steinmeier im Parlament noch einmal auf seinen Gastgeber warten. Diplomatie besteht aus Warten, oft genug im übertragenen Sinne, hier jetzt einmal ganz konkret.

Herzlich kann man den Beginn des Gesprächs nicht nennen. Ohnehin handelt es sich eher um einen Monolog des Präsidenten, der nur durch die Flucht von Viktor Janukowitsch zum Staatsoberhaupt der Ukraine gekürt wurde – und hier auf Abruf tätig ist. Am Sonntag in acht Tagen soll sein Nachfolger gewählt werden. Turtschinow spricht langatmig. Er dankt ausgiebig der Bundesregierung, nimmt es ernst mit den Höflichkeitsfloskeln, aber er formuliert sie, ohne dabei seinen Gast anzuschauen. Steinmeier übt sich in Geduld, kann sich aber einmal die Andeutung eines Grinsens nicht verkneifen.

Geduld kann der manchmal stoisch wirkende Steinmeier an diesem Dienstag in der Ukraine gut gebrauchen. Früh hat er für das Engagement der OSZE in der Ukraine geworben. Die zivile Beobachtermission trieb er gemeinsam mit dem OSZE-Vorsitzenden, dem Schweizer Didier Burkhalter, voran. Gleiches gilt für den runden Tisch, in dem die Ukrainer nun die Zukunft ihres Landes beraten sollen, nicht zuletzt, um damit die so wichtige Präsidentschaftswahl am 25. Mai zu sichern. Sogar Russlands Präsident Wladimir Putin unterstützt inzwischen diesen runden Tisch, so sagt er es jedenfalls. Und mit dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, dem einstigen deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger, soll ein erfahrener Verhandler die OSZE am runden Tisch vertreten. Die Ausgangsbedingungen also sind so schlecht nicht für Steinmeiers Besuch in der Ukraine.

Doch deren politische Führung hat sich am Dienstag noch immer nicht darauf verständigt, wer denn diesen runden Tisch moderieren soll. Ministerpräsident Arseni Jazenjuk, mit dem Steinmeier am Morgen am Flughafen von Kiew zusammenkommt, verweigert es, diese Frage zu beantworten. Vor einer ukrainischen, einer deutschen und einer europäischen Flagge stehen Steinmeier und Jazenjuk nach ihrem einstündigen Treffen im Flughafengebäude. Man habe für den Vorsitz mehrere Kandidaten, sagte der Regierungschef, „der beste“ von ihnen werde diese Aufgabe übernehmen. Zwei ehemalige Präsidenten sind im Gespräch für diesen Posten: der 80-jährige Leonid Krawtschuk, erster Präsident der Ukraine unmittelbar nach der Loslösung von der Sowjetunion; und Leonid Kutschma (75), von 1992 bis 2005 (mit einer kurzen Unterbrechung) Präsident. Bereits an diesem Mittwoch solle sich der runde Tisch konstituieren, heißt es noch am Dienstag. Gewiss hätte Steinmeier an diesem Tag den Vorsitzenden getroffen. Doch wo kein Vorsitzender, da kein Termin mit dem Vorsitzenden. Die Ukrainer sind noch nicht so weit, auch die Zusammensetzung des runden Tisches ist noch offen.

Nun naht die Präsidentschaftswahl; verbunden ist mit ihr die vage Hoffnung, sie könnte dem labilen Land etwas stabilere Verhältnisse verschaffen. Auf Vorschlag westlicher Staaten, vor allem Deutschlands, sollen die streitenden Parteien jenen „Nationalen Dialog“ führen, der mit dem runden Tisch verbunden ist. Steinmeier benutzt diesen Begriff am Vormittag im Flughafengebäude. Jazenjuk wird wenig später ebenfalls den „Nationalen Dialog“ beschwören.

In Donezk versuchen die prorussischen Separatisten inzwischen, mit ihrem „Referendum“ vom vergangenen Sonntag Fakten zu schaffen. Im März war Steinmeier noch in das Zentrum des Kohlereviers im Südosten der Ukraine gereist. Einer seiner damaligen Gesprächspartner, Rinat Achmetov, ist deshalb nach Kiew gekommen. Achmetov, der „Pate von Donezk“, der wohl reichste Mann der Ukraine.

Auf eine hohe Wahlbeteiligung setzt die Regierung in Kiew, darauf setzt der Westen. Je höher die Beteiligung an der Präsidentschaftswahl, desto schwerer wird es Moskau haben, die Legitimität der politischen Führung in Zweifel zu ziehen. Achmetov widersprach dem Eindruck, in seiner Heimatstadt Donezk herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Präsidentschaftswahlen könnten fast allerorten stattfinden, lautet seine Einschätzung. Steinmeier und seine Leute hören das gewiss gern. Der deutsche Außenminister hofft, der 25. Mai könnte zum Wendepunkt in der Ukraine-Krise zu werden.

Doch Geduld ist auch am Nachmittag erforderlich, in Odessa. In der Schwarzmeer-Metropole waren kürzlich in einem verbarrikadierten Gewerkschaftshaus 48 Menschen umgekommen, mehrheitlich wohl prorussische Aktivisten. Brandsätze flogen in das Gebäude, weder Polizei noch Sicherheitskräfte griffen ein. Steinmeier wollte einen Kranz vor der Ruine niederlegen. Ihm ging es darum, ein Zeichen zu setzen: Jedes Menschenleben, das in diesem Konflikt zum Opfer wird, ist eines zu viel. Doch die Verantwortlichen bitten, auf den Akt des Gedenkens zu verzichten. Alte Wunden brächen sonst auf, sagen sie. So bleibt der Kranz mit seiner schwarz-rot-goldenen Schleife in einem Auto von Steinmeiers Delegation. Geduld ist gefragt, wieder einmal.