Die bevorstehende Fußball-WM legt die Defizite des Landes schonungslos offen – und kann sie bei einem Erfolg wieder kaschieren

„Brazil takes off“ (Brasilien hebt ab) titelte im September 2009 das international rennomierte Magazin „Economist“ – das Cover zeigte die Christusstatue von Rio de Janeiro als startende Rakete. Die wirtschaftliche Perspektive des Landes schien rosig, und der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva befand sich im Zenit seiner Macht. Zwei sportliche Großereignisse, die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016, hatte er ins Land geholt – ein weiterer Statusgewinn für Brasiliens Anspruch auf die Mitgliedschaft im Club der führenden Nationen.

Tatsächlich spiegeln sportliche Großereignisse das neue Selbstverständnis von aufstrebenden Großmächten wider. Sie schmücken sich mit diesen Events – um ihr internationales Prestige zu erhöhen. Die vergangene Weltmeisterschaft in Südafrika und die Olympischen Spiele in China 2008 sind Beispiele dafür. Denn durch die Zuteilung der Megaevents wird signalisiert: Dieses Land kann die Herausforderungen meistern. Brasilien als siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt schien dafür gewappnet. Darüber hinaus befeuerten Austragungsorte wie São Paulo, Salvador da Bahia, Manaus, Recife, Puerto Alegre oder Rio de Janeiro die Fantasie und Sehnsüchte der Fußballfans.

Doch am Beispiel Brasiliens zeigen sich auch die Tücken, die solch ein Großereignis mit sich bringt: Im Lichte der Weltöffentlichkeit betrachtet, lassen sich Schwächen nicht mehr kaschieren. Derzeit dominieren negative Schlagzeilen die Berichterstattung über Brasilien. Die Stadien sind längst nicht fertig, und auf einzelnen Baustellen ereigneten sich tödliche Unfälle. Während des Confederation-Cups vor einem Jahr, dem Testlauf der WM, kam es zu massiven politischen Protesten. Dazu gesellten sich unlängst gewaltsame Ausschreitungen nach Fußballspielen. Und in bereits befriedeten Armensiedlungen kehrten die Drogenkartelle zurück – die Polizei reagierte mit Gewaltexzessen. Hat sich Brasilien übernommen? Zumindest haben sich die Bedingungen seit dem Zuschlag für die WM verändert. Die Wirtschaft wächst nur noch langsam, die Exporterlöse sind bei sinkenden Rohstoffpreisen zurückgegangen. Die Inflationsrate ist deutlich gestiegen und frisst die Einkommenszuwächse auf.

Bei den Protesten im vergangenen Jahr ging vor allem die Mittelschicht auf die Straße, während die Regierung aufgrund ihrer jahrelangen Sozialpolitik zugunsten der Armen in der Unterschicht immer noch über einen starken Rückhalt verfügte. Doch auch der bröckelt: Die enormen Kosten für die Weltmeisterschaft und die Verdrängung der armen Bevölkerung aus WM-Gebieten haben für eine explosive Mischung gesorgt. Brasilien ist nach wie vor eine Gesellschaft krasser sozialer Gegensätze.

Das Land wurde schlicht überschätzt. Akute Infrastrukturprobleme bei Häfen, Flughäfen, Straßen und im öffentlichen Nahverkehr sind schon lange bekannt. Das Gleiche gilt für überbürokratisierte Entscheidungsprozesse und ein kompliziertes, durch Vetternwirtschaft gekennzeichnetes politisches System.

Brasilien boxt derzeit über der eigenen Gewichtsklasse. Es möchte zur wirtschaftlichen Integration Südamerikas beitragen, ohne der wirtschaftliche Motor in der Region zu sein. Es möchte zu den führenden Industrieländern aufschließen, während der Anteil der Industrie zur wirtschaftlichen Wertschöpfung in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen und nur unzureichend in internationale Wertschöpfungsketten integriert ist. Die Marine definiert weitreichende Sicherheitsinteressen im Südatlantik, ohne über die militärischen Mittel für ihre Durchsetzung zu verfügen.

Die Vorbereitung auf die WM hat all dies zum Vorschein gebracht. Mangelhafte Sportstätten, Organisationspannen, soziale Proteste und Gewaltkriminalität gegen ausländische Besucher könnten den Ruf des Landes nachhaltig beschädigen. „Has Brazil blown it?“ (Hat es Brasilien vermasselt?) titelte dann Ende 2013 der Economist und zeigte die Christusstatue von Rio de Janeiro als abstürzende Rakete.

Die WM ist es jedoch auch, die die Probleme des Landes wieder kaschieren könnte: Durch einen Ablauf ohne Zwischenfälle und vor allem durch das erfolgreiche Abschneiden der brasilianischen Nationalmannschaft. Alles kommt nun auf das Improvisationstalent der Brasilianer an – und auf die Torgefährlichkeit der Spieler.