In Prag erinnert Bundespräsident Joachim Gauck an die wechselvolle Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen – und erntet viel Lob

Prag. Das drängende weltpolitische Thema Ukraine sollte diesmal nicht alles bestimmen: Bundespräsident Joachim Gauck hat den zweiten Tag seines Staatsbesuches in Tschechien ausschließlich der Erinnerung an Freud und Leid in den bilateralen Beziehungen beider Nachbarvölker gewidmet. Dass es ein sehr emotionaler Tag werden sollte, zeigte sich schon am Vormittag, als ihn die Karls-Universität bei einem Festakt mit ihrer Gedenkmedaille ehrte und er sich mit einer eindrucksvollen Rede bedankte.

Dieses Prag, so erinnerte sich Gauck, habe ihn schon immer beflügelt. Nach der „Samtenen Revolution“ habe er die Stadt besucht, berauscht vom Gefühl, dass für alle, die hinter dem Eisernen Vorhang abgeschnitten waren, endlich die ganze Welt offenstehen würde. Dieses Thema der Freiheit bringt Gauck mit Namen wie Vaclav Havel, dem Prager Frühling, mit Jan Palach oder der Charta 77 in Verbindung. Havel hatte er schon als Oppositioneller und Pfarrer in Rostock zitiert: „Die Macht der Mächtigen erwächst aus der Ohnmacht der Ohnmächtigen.“ Daraus habe man seinerzeit die Kraft geschöpft, aufzustehen gegen das DDR-Unrechtsregime. Der Bundespräsident wird in diesem Jahr noch einmal nach Prag und in andere osteuropäische Hauptstädte reisen, um an den 25. Jahrestag der Freiheit zu erinnern.

Die Rede vor der Karls-Universität war eher dem deutsch-tschechischen Thema gewidmet. Der Erinnerung an die so einzigartige Symbiose von Deutschen, Tschechen und Juden in dieser Stadt, an die Literaten um Kafka etwa. An der ältesten Universität Mitteleuropas hätten Studenten aus vielen Teilen Europas studiert, so Gauck. Er erinnerte an spätere konfessionelle Intoleranz, die Spaltung der Universität in zwei konkurrierende tschechische und deutsche Lehranstalten. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Albtraums mit der Schließung der Universität und der Deportierung von Studenten und Professoren habe dann über Jahrzehnte kommunistische Gleichschaltung geherrscht. Wortgewaltig, wenn auch äußerlich gefasst, äußerte sich der Bundespräsident über das viele Leid in der gemeinsamen Geschichte von Deutschen und Tschechen: „Manchmal erscheint es wie ein Wunder, dass wir unter der Last der Erinnerungen nicht schon längst erstickt sind. Dass es möglich war, uns überhaupt wieder in die Augen zu schauen, überhaupt wieder miteinander zu sprechen, den Mut zu finden, im Geiste von Verständigung und Versöhnung die Geschichte als eine gemeinsame fortzuschreiben.“

In diesem Zusammenhang erinnerte Gauck auch an die Deutschen, die nach 1945 ihre Heimat verlassen mussten. „Durch Flucht, Vertreibung, Zwangsaussiedlung, ethnische Säuberung, Abschiebung – wie immer Sie es nennen mögen – Schuldige und Unschuldige zugleich.“ Gauck nannte dies den letzten Akt des deutsch-tschechischen Dramas.

Es sind solche Reden, die Gauck in Tschechien hohe Achtung eintragen. Eine große Prager Zeitung würdigte ihn in ihrem Leitartikel als den deutschen Präsidenten mit der wohl größten Empathie für die Tschechen, der ihnen von allen bisherigen Staatsoberhäuptern am meisten entgegenkomme. „Gauck ist eine außerordentliche Persönlichkeit und eine wahrhafte moralische Autorität“, schrieb das Blatt.

Joachim Gauck hat in seiner Amtszeit wiederholt schon an die Leiden der Tschechen unter dem NS-Regime erinnert. Zum 70. Jahrestag der Auslöschung der Orte Lidice und Lezaky schrieb er einen sehr persönlichen Brief an den damaligen Präsidenten Vaclav Klaus. In dem bekundete er Scham und Trauer für die Opfer des NS-Terrors. Die Attentäter auf Hitlers Statthalter in Prag, Reinhard Heydrich, nannte er Vorbilder bis hin in die heutige Zeit. Später, bei seinem Antrittsbesuch in Prag, besichtigte er gemeinsam mit Klaus die Gedenkstätte in Lidice. Einen solchen gemeinsamen Besuch zweier Staatsoberhäupter aus Deutschland und Tschechien hatte es dort noch nie zuvor gegeben.

In dieser Reihe stand auch der Besuch des Bundespräsidenten mit seinem jetzigen Gastgeber Milos Zeman in Theresienstadt. Dieser Ort, eine Autostunde von Prag entfernt, von Kaiserin Maria Theresia als Festung gegründet, gehört zu den beladendsten für das Verhältnis der Tschechen zu den Deutschen. Die sogenannte Kleine Festung Theresienstadt, die lange als Kerker der Habsburger Monarchie gedient hatte, war 1940, unter der nationalsozialistischen Besatzung Böhmens und Mährens, in das Polizeigefängnis der Prager Gestapo umfunktioniert worden.

32.000 Häftlinge wurden durch die ständig überfüllten Zellen geschleust. Hunger, Epidemien, Misshandlungen und Hinrichtungen ohne jeden Prozess kosteten 2600 von ihnen das Leben, darunter 500 Frauen, Weitere 5500 sind nach der Deportation in andere NS-Konzentrationslager, Zuchthäuser und Gefängnisse umgekommen. Später ging die Fahrt in das benachbarte einstige Judengetto Theresienstadt. Dass Präsident Zeman ihn auch auf dem schweren Weg hierhin begleiten wollte, würdigte Gauck ausdrücklich. 1941 war es als Sammel- und Durchgangslager für die jüdische Bevölkerung umfunktioniert worden. 155.000 Männer, Frauen und Kinder, zuerst aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, später auch aus anderen europäischen Ländern wurden hier unter unsäglichen Bedingungen untergebracht. 35.000 von ihnen starben im Getto an Hunger, Kälte oder Seuchen, 83.000 nach ihrer Deportation in Vernichtungslager. Die meisten endeten in Auschwitz.