Kiewer Regierung geht gegen neue Gewaltwelle in der Ukraine vor. Bundesaußenminister fordert lokale runde Tische durch OSZE-Vermittlung

Kiew. Nach der Freilassung der entführten Militärbeobachter gleitet die Ostukraine zunehmend in bürgerkriegsähnliche Zustände ab. Mit Kampfhubschraubern und Panzerfahrzeugen gingen Regierungstruppen am Sonntag erneut gegen prorussische Separatisten vor, es gab Tote und Verletzte. Der „Anti-Terror-Einsatz“ werde fortgesetzt, kündigte Innenminister Arsen Awakow in Kiew an. Moskau befürchtet eine Großoffensive der ukrainischen Sicherheitskräfte und rief den Westen auf, Kiew davon abzuhalten.

In einem Krisentelefonat mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte Russlands Präsident Wladimir Putin nach Kreml-Angaben von Sonntag einen Dialog zwischen der Zentralmacht in Kiew und den Protestführern. Der Kremlchef bekräftigte seine Haltung, wonach die prowestliche Führung in Kiew dringend das Gespräch mit den moskautreuen Protestführern im Südosten des Landes suchen müsse. Merkel habe sich in dem Gespräch erleichtert gezeigt über die Freilassung der festgesetzten OSZE-Beobachter, hieß es am Sonntagabend in Moskau. Wie der Kreml weiter mitteilte, wird der OSZE-Vorsitzende Didier Burkhalter am Mittwoch zu Gesprächen über die schwere Ukraine-Krise nach Moskau reisen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bemüht sich seit Monaten um einen Ausgleich in der Ukraine.

Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der prowestlichen Regierung in Kiew gehen auf andere Landesteile über. Im Osten und der Schwarzmeerstadt Odessa zeichnet sich keine Entspannung der von schweren Zusammenstößen eskalierten Lage ab. Nach den Unruhen in Odessa vom Freitag mit 42 Toten stürmten prorussische Demonstranten am Sonntag den Hauptsitz der Polizei. Sie warfen Scheiben ein und zerstörten Überwachungskameras, einige drangen in den Innenhof ein. Wenig später wurden 67 Gefangene freigelassen und von der Menge jubelnd begrüßt. Der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk versuchte bei einem Besuch in der Hafenstadt, die Gemüter zu beruhigen. Er sagte, die Reaktion der Polizei auf die Unruhen werde untersucht. Es gebe aber auch Hinweise, dass Russland seine Finger im Spiel habe. Er habe die Staatsanwaltschaft aufgefordert, „alle Anstifter, alle Organisatoren und alle jene herauszufinden, die unter russischer Führung die tödliche Attacke auf die Ukraine und Odessa“ ausgeführt hätten. Die meisten Toten bei den Zusammenstößen hatte es bei einem Feuer in einem Gewerkschaftsgebäude gegeben, in das sich prorussische Aufständische geflüchtet hatten.

Angesichts der nicht enden wollenden Gewalt streiten Russland und die ukrainische Führung darüber, wer dafür verantwortlich ist. Kiew verantworte ein „Blutvergießen, das schießende Truppen an unbewaffneten Menschen“ anrichteten, erklärte das Außenamt in Moskau. Awakow sagte jedoch: „Wir werden weiter gegen Extremisten und Terroristen vorgehen, die Gesetze ignorieren und das Leben der Bürger gefährden.“ Gemeint sind die prorussischen Aktivisten, die mehr Autonomie für die Regionen im Osten der früheren Sowjetrepublik fordern. Seit Wochen halten die zum Großteil bewaffneten Kräfte in der Region Dutzende Verwaltungsgebäude besetzt, sie haben zudem eine „Volksrepublik Donezk“ ausgerufen.

Dass die ukrainische Regierung die entschlossene Konfrontation mit den Separatisten sucht, hat damit zu tun, dass sie sich zwischen Pest und Cholera entscheiden musste: Pest, das ist das Referendum am 11. Mai. Die selbst ernannten Gebietsregierungen in Donezk und Lugansk wollen darüber abstimmen, ob sie eigenständige Staaten, Volksrepubliken, ausrufen. Kommt es dazu, ist das Ergebnis klar: Die Wahlen werden nicht fair sein. Es fehlen unabhängige Wahlbeobachter und verlässliche Wahlkommissionen. Wenn die Wahl stattfindet, werden die Separatisten ihre Volksrepubliken ausrufen, die Zentralregierung würde die Kontrolle über den Osten verlieren. Also hat sich die Kiewer Regierung von Premierminister Arseni Jazenjuk für Cholera entschieden: Sie versucht mit voller Kraft, die Separatistenhochburgen in Slowjansk und Kramatorsk zu erobern.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wirbt unterdessen zur Beilegung des Konflikts für eine zweite Genfer Konferenz. Die Ukraine und Russland hatten sich Mitte April in Genf mit der EU und den USA darauf geeinigt, alle illegalen Gruppen in der Ukraine zu entwaffnen und besetzte Gebäude zu räumen. Er habe bereits in vielen Gesprächen unter anderem mit US-Außenminister John Kerry und seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow dafür geworben, „dass man dem ersten Genfer Treffen jetzt ein zweites Genfer Treffen folgen lässt“, sagte Steinmeier am Sonntagabend im „Bericht aus Berlin“. Dort müssten „endlich klare Verabredungen getroffen werden“, um eine politische Lösung des Konflikts zu erreichen. Die „Tragödie von Odessa“ müsse eigentlich „ein Weckruf“ für alle Beteiligten sein. Als Vorschläge für eine Entschärfung des Konflikts nannte er eine Stärkung der Vermittlungsrolle der OSZE. Sie müsse zum Beispiel damit betraut werden, „lokale runde Tische einzurichten, dafür zu sorgen, dass lokale Konflikte in einzelnen Städten entkrampft werden.“ Steinmeier verteidigte zudem den Einsatz der Militärbeobachter der Bundeswehr. Auch ihr Einsatz gehöre „zur großen Familie der OSZE-Missionen“. Er habe im Verlauf der Krise wertvolle Hinweise geliefert, etwa dass Russland entgegen Gerüchten nicht in die Ostukraine einmarschiert sei.