Forscher warnen: Ohne Reformen der Rentensysteme, längere und effektivere Lebensarbeitszeit drohen die Sozialsysteme zu kollabieren

Berlin. Die Schuldenkrise hat die Volkswirtschaften vieler europäischer Länder stark erschüttert. Doch die bevorstehende rasante Alterung der Bevölkerung gefährdet viele Länder der Europäischen Union noch weit dramatischer. Das zeigt die Studie „Zur Zukunftsfestigkeit der europäischen Sozialstaaten“, die das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) im Auftrag des Deutschen Instituts für Altersvorsorge vorgelegt hat. Danach droht in den meisten Staaten ein enormer Anstieg der Sozialausgaben für Rentner. Deutschland gehört mit den Krisenländern Griechenland, Portugal und Spanien zu den am stärksten betroffenen Ländern, warnen die Forscher. Ihr Fazit: In den meisten Regionen der EU müssen die Menschen mehr, produktiver und vor allem länger arbeiten.

In Europa ist der Staatsanteil an der Wirtschaft mit 50 Prozent deutlich größer als in den USA, Japan oder in der Schweiz. Der Grund ist das in vielen EU-Ländern gut ausgebaute Sozialsystem, das im Durchschnitt ein Fünftel der gesamten Wirtschaftsleistung beansprucht. Am stärksten schlagen dabei fast überall die Sozialleistungen für Rentner zu Buche, die in den vergangenen Jahren infolge der demografischen Entwicklung bereits stark angestiegen sind. Wie stark die Sozialsysteme der einzelnen EU-Länder in den nächsten Jahrzehnten unter Druck geraten, hängt zum einen von deren Großzügigkeit ab und zum anderen vom Tempo der Alterung. In Deutschland und Italien ist der Anteil der Senioren mit mehr als 20 Prozent am höchsten. In keinem anderen Land gibt es zudem weniger Kinder im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung als hierzulande.

2060 wird es viermal mehr Rentner im Verhältnis zu Berufstätigen geben

Von allen EU-Staaten hat Italien das größte Rentenproblem. Denn die Italiener sind ihren Senioren gegenüber besonders spendabel. Zwar hat das Land ebenso wie Deutschland in den vergangenen Jahren sein Alterssicherungssystem reformiert. Doch in beiden Staaten drohen den künftigen Beitragszahlern trotzdem gewaltige finanzielle Belastungen, falls nicht weitere Anpassungen unternommen werden, mahnen die HWWI-Forscher.

In Frankreich, Schweden, Finnland und Österreich altert die Bevölkerung bis 2060 zwar weniger schnell. Doch auch diesen Staaten droht Ungemach, da sie besonders hohe Ausgaben pro Kopf der über 65-Jährigen aufweisen. Das bezieht sich nicht nur auf die Rentenzahlungen, sondern beispielsweise auch auf das Gesundheitswesen oder die Pflege. Während in Südeuropa und im Westen der demografische Wandel bereits weit fortgeschritten ist, wird Osteuropa erst in einigen Jahrzehnten beginnen, stark zu altern. So wird es 2060 viermal mehr Rentner im Verhältnis zur aktiven Bevölkerung geben als heute. In Deutschland verdoppelt sich dieser sogenannte Altenquotient in gleichem Zeitraum.

Die jüngste Gesellschaft hat dagegen Irland. Weil es hier nach wie vor viele Kinder gibt, wächst die Bevölkerung in den nächsten Jahren. Auch in Frankreich, Schweden und Finnland wächst die Bevölkerung künftig noch. Dass diese drei Staaten dennoch ein ähnlich großes Rentenproblem wie Deutschland bekommen, liegt an den großzügigen Leistungen, die sie ihren Ruheständlern gewähren. Entspannt zurücklehnen können sich dagegen die Niederländer, Briten, Iren und Ungarn, denn die Bevölkerung in ihren Ländern altert nur moderat.

Doch die HWWI-Ökonomen sehen auch für die stark betroffenen Regionen gute Chancen, das Rentenproblem zu entschärfen. Als „zentrale Stellschraube“ sehen sie dabei die Erwerbsquote an. In Ländern, in denen Frauen deutlich weniger arbeiten als die Männer, wie dies etwa nach wie vor in Deutschland der Fall ist, sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Beschäftigung vor allem von Müttern zu erhöhen.

Noch wichtiger aber ist es aus Sicht der Experten, den Ruhestand hinauszuschieben. Sinnvoll wäre es, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln, heißt es in der Studie. Dadurch bliebe die Ruhestandsphase künftig gleich lang, anstatt wie bisher stetig länger zu werden. Hierzulande beträgt die durchschnittliche Rentendauer mittlerweile fast 20 Jahre und damit doppelt so lange wie in den 60er-Jahren.