Nach Sieg seiner AKP bei Kommunalwahlen will er die Gülen-Bewegung „bis in die hinterletzten Verstecke“ verfolgen

Ankara. Nach der Wahl ist vor der Wahl – und kein Politiker in der Türkei hat dieses Prinzip so verinnerlicht wie Recep Tayyip Erdogan. Die Wahllokale waren nach der Kommunalwahl vom Sonntag erst wenige Stunden geschlossen, da kündigte der Ministerpräsident bereits eine gründliche Analyse der Lage seiner Regierungspartei AKP an. Diese hatte zwar etwa 43 Prozent der Stimmen erhalten und die Wahl damit klar gewonnen, aber Erdogan will wissen: „Warum haben wir nicht 55 oder 60 Prozent erreicht?“ Denn die nächste Wahl findet bereits in wenigen Monaten statt.

Der Ministerpräsident hielt vor seinen Anhängern eine Dankesrede, die sich ganz so anhörte, als wolle er wie geplant in diesem Sommer für die Präsidentschaft kandidieren. Er kann laut Parteistatuten nicht ein weiteres Mal Ministerpräsident werden, aber er kann diese Statuten leicht ändern lassen. Er sagte, Europa habe nun das Nachsehen, es müsse die Türkei mit anderen Augen betrachten. Denn die Türkei habe die perfekte Demokratie, eine Demokratie, von der man in Europa nur träumen könne. Er grüßte die Muslime der Welt und die muslimischen Länder des Planeten, wie er es immer tut bei solchen Anlässen – und verband das mit der Aussage, seine Gegner hätten „eine osmanische Ohrfeige gefressen“.

Erdogan drohte den Gegnern der Regierung an, er werde sie „bis in die hinterletzten Verstecke“ verfolgen. Besonders Anhänger der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, dem Erdogan eine regierungsfeindliche Schmutzkampagne vorwirft, müssen sich auf neuen Druck gefasst machen. Die vergangenen Monate waren geprägt von einem erbitterten Machtkampf zwischen der AKP und Anhängern des in den USA lebenden Predigers Fetullah Gülen. Sie sollen über informelle Netzwerke viel Einfluss in Staat, Polizei und Justiz haben. „Gehabt haben“ muss man jetzt sagen, denn weder im Wahlverhalten der Bürger noch bei der Wahlbeteiligung zeigte sich ein „Gülen-Effekt“. Hingegen kündigte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Wahlabend an, er werde die Gülenisten aus ihren Höhlen treiben. „Es wird solche geben, die fliehen müssen“, sagte er. Den Wahltag über blieben führende Gülen-Medien von Hackerangriffen lahmgelegt. Seit Dezember hatten Gülen-nahe Staatsanwälte und Medien sowie anonyme Akteure im Internet die Regierung mit einer Flut peinlicher Enthüllungen und Ermittlungen bezüglich Korruption und Machtmissbrauch überzogen.

Demonstrativ trat Erdogan am Wahlabend mit allen prominenten Korruptionsverdächtigen öffentlich auf, auch mit seinem Sohn Bilal. Die Botschaft war klar: „Ihr könnt uns nichts anhaben“. In „Tayyip-Land“, wie die Erdogan-kritische Zeitung „Taraf“ seit Neuestem die Türkei nennt, haben der Premier und seine Regierungspartei mehr Machtbefugnisse als je zuvor – und sind auch bereit, diese einzusetzen. Die Zugangssperren für Twitter und YouTube, die nach wie vor in Kraft sind, liefern Beispiele dafür. Auch in der Außenpolitik gibt sich Erdogan unversöhnlich. Mit dem Nachbarn Syrien, der in den vergangenen Tagen mehrmals türkische Kampfflugzeuge ins Visier nahm, befinde sich die Türkei „im Krieg“, sagte der Ministerpräsident.

Erdogans Kompromisslosigkeit ist ein Hinweis darauf, wie er die nächsten Wahlkämpfe führen will. Im August wählen die Türken einen neuen Staatspräsidenten; möglicherweise wird Erdogan, den frischen Wahlerfolg vom Sonntag im Rücken, selbst als Kandidat in den Ring steigen. Spätestens Mitte kommenden Jahres stehen dann Parlamentswahlen an, bei denen die AKP ihre Vormachtstellung in „Tayyip-Land“ zementieren will.

Bisher hat die Opposition kein Gegenrezept. Erdogans Wahlerfolge gründen sich auf den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes und die Bewunderung islamisch-konservativer Bevölkerungsteile für die Regierung und den Ministerpräsidenten. Zudem ist die AKP die einzige Partei in der Türkei, die in allen Landesteilen präsent ist: Die säkularistische CHP und die nationalistische MHP sind in Zentral- und Ostanatolien extrem schwach, dafür ist die Kurdenpartei BDP ausschließlich in Ostanatolien stark.

Erdogans Gegner machten sich am Montag selbst Mut. Immerhin habe seine Partei mehr Wähler angezogen als bei früheren Wahlen, sagte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu. Dennoch bleibt die Tatsache, dass die die Partei nicht über die 30-Prozent-Grenze hinauskam.

Wenn eine Regierung so heftig mit Korruptionsvorwürfen überschüttet werde wie Erdogans Kabinett in der jüngsten Vergangenheit, die Opposition aber trotzdem keine großen Zugewinne verzeichne, dann liege das ja wohl nicht nur an der Stärke des Ministerpräsidenten, sagte der Politologe Hüseyin Yayman von der Gazi-Universität in Ankara dem Nachrichtensender CNN-Türk. „Selbst in diesem Sandsturm gewinnt die AKP“, sagte er. „Da muss man nicht nach der AKP fragen, sondern nach der Opposition.“

Während sich die Parteien auf die kommenden Wahlschlachten einstellen, bleiben die schroffen gesellschaftlichen Gegensätze im Land bestehen. Erdogan machte nach dem Wahlerfolg keine Versuche, seinen Kritikern in Sachen Gezi-Protestbewegung oder Twitter-Verbot entgegenzukommen – Wahlen kann er ja auch ohne diese Gruppen mit Unterstützung der konservativen Bevölkerungskreise vor allem in den ländlichen Gebieten gewinnen, wie sich am Sonntagabend gezeigt hat. Die nächsten Monate dürften ähnlich lebhaft verlaufen wie die jüngste Zeit. Die sozialen Spannungen existieren weiter, auch wenn der Widerstandsgeist vieler Erdogan-Gegner, die im vergangenen Jahr im Istanbuler Gezi-Park gegen die Regierung auf die Barrikaden gingen, angesichts des neuen Erfolges der AKP erlahmt zu sein scheint. So fragte der Musiker Güney Yüksel am Montag enttäuscht auf Twitter: „Wo ist der Geist von Gezi?“