Der Sozialdemokrat Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, über mehr Bürgernähe, seine Chancen, Kommissionspräsident zu werden und die Ukraine-Krise. Am 25. Mai ist er der Spitzenkandidat seiner Partei.

Hamburg. Der Sozialdemokrat Martin Schulz ist seit 1994 Mitglied des Europaparlaments, seit 2012 dessen Präsident. Bei der Europawahl am 25. Mai ist er der Spitzenkandidat seiner Partei – und er will der nächste Kommissionspräsident werden.

Hamburger Abendblatt: Am Sonnabend um 14 Uhr eröffnet die SPD den bundesweiten Europa-Wahlkampf auf Kampnagel. Warum passiert das hier in Hamburg?

Martin Schulz: Das hat sich zu meiner Freude so ergeben. Ich mag Hamburg sehr und bin immer wieder mit meiner Familie hier. Die SPD ist mit ihrem großartigen Bürgermeister Olaf Scholz gut aufgestellt, der hervorragende Arbeit für die Stadt leistet. Außerdem ist Hamburg nicht zuletzt mit seinem Hafen eine europäische Metropole, die wichtig für Deutschland und ganz Europa ist. Ich freue mich auf den Tag hier.

Warum sollen die Menschen am 25. Mai wählen gehen?

Schulz: Zum ersten Mal können die Wähler darüber entscheiden, wer der Nachfolger von EU-Kommissionspräsident Barroso wird. Das ist eine demokratische Revolution in Europa, weil dieses wichtige Amt in der Vergangenheit hinter verschlossenen Türen ausgekungelt wurde. Jetzt bewerben sich Personen mit ihren Vorstellungen um das Amt, und die Wähler können europaweit entscheiden. Wer will, dass Jean-Claude Juncker gewinnt, der wählt CDU. Und wer möchte, dass Martin Schulz nächster Kommissionspräsident wird, der muss SPD wählen.

Und warum sollten die Wahlberechtigten bei Ihnen als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten ihr Kreuz machen?

Schulz: Ich war lange Zeit Bürgermeister und weiß deshalb, dass es besser ist, wenn Entscheidungen so ortsnah wie möglich getroffen werden. Deshalb will ich in der EU einen Kulturwandel erreichen, dass sich Brüssel nicht überall einmischt. Viele Dinge kann man auf nationaler Ebene oder in Hamburg einfach besser regeln. Gleichzeitig muss die EU aber endlich für Steuergerechtigkeit sorgen, damit beispielsweise Unternehmen und private Großverdiener dort ihre Steuern zahlen, wo sie Gewinne erwirtschaften, und sie nicht einfach in eine Steueroase ausweichen können. Außerdem müssen wir dringend etwas gegen die Jugendarbeitslosigkeit tun, die manche europäische Gesellschaften zu zerreißen droht. Die Botschaft an die jungen Leute „Wir retten Banken mit Milliarden, und für euch haben wir kein Geld“ zerstört Vertrauen. Das will ich ändern.

Es besteht die Gefahr, dass immer mehr kleine Parteien ins Europäische Parlament einziehen, die weniger Europa und mehr Nationalismus im Sinn haben. Schwächt das die Handlungsfähigkeit des Parlaments und der EU?

Schulz: Dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Sperrklausel für die Europawahl abgeschafft hat, besteht nun die reale Gefahr, dass Extremisten und Populisten aus unserem Land ins Europaparlament einziehen. Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern ist eine hohe Wahlbeteiligung. Das muss uns bei der Wahl gelingen, damit diese Leute für ihren Hass und Rassismus keine europäische Bühne bekommen. Die Handlungsfähigkeit des Parlaments wird aber nicht beeinträchtigt, weil es den Extremisten bislang noch nie gelungen ist, effektiv zusammenzuarbeiten. Sie betreiben ausschließlich Hetze, fallen nur durch Pöbeleien auf und tragen zur Lösung keines einzigen Problems bei.

Sie wollen Präsident der EU-Kommission werden. Welches sind Ihre vorrangigen Ziele?

Schulz: Ich will die Arbeitslosigkeit bekämpfen, indem ich den Mittelstand und die Industrie stärke, sodass aus Europa weiterhin die modernsten und umweltfreundlichsten Produkte kommen. Gerade im Bereich der digitalen Produkte müssen wir technologisch aufholen, damit wir unsere Datenschutzstandards auch gegenüber anderen Staaten und multinationalen Konzernen verteidigen können. Wir brauchen eine Stärkung von Arbeitnehmerrechten und europäische Mindestlöhne. Schließlich liegt mir der Verbraucherschutz besonders am Herzen, weil ich es unerträglich finde, wenn gewissenlose Verbrecher mit Gammelfleisch und gefährlichem Spielzeug ihre Profite machen. Das Wichtigste ist mir, dass wir Vertrauen in die europäische Idee zurückgewinnen und dass wir uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht in unsere nationalen Einzelteile zerlegen. Denn dann werden wir weder unsere Freiheit, Sicherheit noch unseren Wohlstand erhalten können.

Es gibt Vorwürfe, vor allem aus Deutschland, dass Sie Ihre Spitzenkandidatur und Ihr derzeitiges Amt als Präsident des Europäischen Parlaments nicht scharf genug trennen.

Schulz: Ich trenne das sehr genau. Gewundert habe ich mich allerdings, warum mir von einigen solche Vorwürfe gemacht werden, die keinem meiner Vorgänger oder einem anderen Amtsträger, der sich um ein Mandat beworben hat, gemacht wurden. Das sind sehr durchsichtige Wahlkampfmanöver. Ich für meinen Teil möchte den Wahlkampf mit inhaltlichen Debatten bestreiten.

Die Konservativen schicken mit den früheren luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidaten ins Rennen. Wie wollen Sie sich ihm gegenüber abgrenzen?

Schulz: Ich schätze Jean-Claude Juncker persönlich sehr. Aber er verkörpert das alte Europa, in dem die Regierungschefs hinter verschlossenen Türen die Dinge auskungeln. Das will ich ändern. Ich will der erste Kommissionspräsident werde, der sein Mandat unmittelbar von den Bürgern erhält. Außerdem gehen unsere Vorstellungen weit auseinander, wenn es um die Regulierung von Banken und Finanzmärkten geht. Während ich will, dass Banken und Finanzmärkte auch ihren finanziellen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten, sieht Herr Juncker das als ehemaliger luxemburgischer Regierungschef etwas anders.

Es gibt Gerüchte, dass weder Sie noch Juncker Kommissionspräsident werden, weil die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer lieber eine ihnen genehme Person möchten.

Schulz: Es geht nicht darum, wer eine „genehme Person“ für die Regierungschefs ist, sondern wer als Sieger aus einer demokratischen Wahl hervorgeht und sich darum kümmert, dass die EU endlich wieder die Probleme der Menschen löst. Die europäischen Parteien haben Spitzenkandidaten aufgestellt, die für das Amt des Kommissionspräsidenten kandidieren. An diesem Prozess waren die Regierungschefs selbst beteiligt. Bald haben 400 Millionen Wählerinnen und Wähler das Wort, nachdem wir einen europaweiten Wahlkampf geführt haben. Wer immer versuchen wird, sich gegen diesen Prozess zu stemmen, der hat ein sehr merkwürdiges Demokratieverständnis.

Was machen Sie, wenn Sie nicht Kommissionspräsident werden?

Schulz: Es gibt keinen Plan B, und dafür gibt es auch angesichts der europaweiten Umfragen keinen Anlass. Ich bin sehr zuversichtlich und wild entschlossen, Europa wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, damit wir auch in diesem noch jungen Jahrhundert unseren Frieden und Wohlstand bewahren.

Ihr Parlamentskollege Elmar Brok hat die Krim für die Ukraine für verloren erklärt. Wie gefährlich ist die Krise in der Ukraine für Europa?

Schulz: Sehr gefährlich, weil zum ersten Mal wieder Grenzen auf unserem Kontinent gewaltsam verschoben worden sind. Seit Langem haben Menschen in Europa erstmals wieder Angst vor einer kriegerischen Auseinandersetzung. Das nehme ich sehr ernst. Als Europäer haben wir zusammen mit den USA ein klares Signal an Russland gesendet, dass wir das nicht akzeptieren. Jetzt geht es vor allem darum, eine Eskalation oder eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern. Deshalb ist es ein großer diplomatischer Erfolg, dass die OSZE nun in der Ukraine ist und dass Russland und die Ukraine wieder erste Gespräche geführt haben. Daran müssen wir weiterarbeiten.

Kann Europa nur mit den USA handeln?

Schulz: Europa und die USA sind enge Verbündete. Da ist es ganz normal, dass wir uns eng abstimmen und gemeinsam vorgehen. Es zeigt sich aber gerade auch, wie wichtig der europäische Zusammenschluss ist, der über viele Jahrzehnte den Frieden auf unserem Kontinent gesichert hat. Man stelle sich vor, angesichts der aktuellen Krise um die Ukraine würden Dutzende europäische Staaten wie ein Hühnerhaufen herumlaufen. Das könnte sehr bedrohlich werden, und deshalb können wir heilfroh sein, dass wir uns zur EU zusammengeschlossen haben.

Die Krise begann, weil der damalige Präsident Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieben hat. Hat die EU zu viel gewollt?

Schulz: Nein, denn das Abkommen ist lange und fair verhandelt worden und war unterschriftsreif, als Janukowitsch plötzlich einen Rückzieher gemacht hat. Aber das ist Schnee von gestern. Jetzt geht es darum, die Ukraine zu stabilisieren und auf ihrem Weg zu Neuwahlen zu unterstützen.

Die Krise soll möglichst auf diplomatischem Weg gelöst werden. Aber nimmt Präsident Putin die EU noch ernst?

Schulz: Ja, denn Putin weiß, wie wichtig Europa für sein Land ist. Wir sind Nachbarn, teilen eine Geschichte, haben enge Handelsbeziehungen, und Russland braucht Europa bei der Modernisierung seiner Wirtschaft. Bei allen internationalen Fragen müssen wir zusammenarbeiten. Deshalb ist es so entscheidend, über unsere gemeinsamen Interessen zu sprechen, um wieder in einen Modus zu kommen, der deeskalierend ist.