Ein DDR-ähnliches Parteiensystem, eingeschränkte Pressefreiheit, antiwestliche Propaganda – der russische Präsident igelt sich zunehmend ein. Verliert der Ex-KGB-Agent den Kontakt zur Wirklichkeit?

Die Russen nennen es die „Sternenkrankheit“. Hebt ein Vorgesetzter ab, ignoriert er auch wohlmeinende Einwände seiner Mitarbeiter, erheben sich Duma-Abgeordnete oder Regionalgouverneure über ihre Umwelt und wissen alles, und das auch noch besser, verliert ein gefeierter Künstler den Kontakt zur Realität, lautet die Diagnose „Swjosdnaja bolesn“. Kanzlerin Angela Merkel hatte diesen Eindruck offenbar nach einem Telefonat mit Wladimir Putin gewonnen. Dieser lebe „in einer anderen Welt“, erzählte sie anschließend dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Aus Moskau ergänzt man schon seit Längerem hinter vorgehaltener Hand: „... in einer ganz anderen.“

Der steile Aufstieg des Vorstadtjungen Wowa aus Leningrad ist nicht spurlos an dem Mann im Kreml vorbeigegangen. Er blickt heute auf eine, auf seine Welt, die nur noch selten Berührungspunkte mit der Realität findet. Putin und seine devote Umgebung sehen sich umzingelt von übelwollenden Feinden, die nur darauf aus sind, Russland zu schwächen, anzugreifen, zu zerstückeln, es von der Landkarte zu fegen. Das ist nicht so ganz neu. Schon auf dem G8-Gipfel 2006 in St. Petersburg fühlte sich die deutsche Kanzlerin veranlasst, den Kremlchef ironisch auf einen wichtigen Umstand hinzuweisen. Die anwesenden Staats- und Regierungschefs seien keineswegs den ganzen Tag damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie man Russland schaden könne, kommentierte sie eine seiner zahlreichen Klagen über das böse Ausland.

Wenn heute einige deutsche Kommentatoren verständnisinnig behaupten, der Westen habe Putin in den vergangenen Jahren regelrecht „dämonisiert“, dann haben sie nicht mitbekommen, was sich in den Jahren der Putin-Regentschaft in der „veröffentlichten Meinung“ und in der Realität in Russland abgespielt hat. Das einstige Imperium, der Nachfolgestaat der 1991 zusammengebrochenen Sowjetunion, bewegte und bewegt sich, angetrieben von dem Mann, den das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ zum einflussreichsten Politiker des Jahres 2013 kürte, stetig weg von den demokratischen Anfängen.

Stattdessen ist in Russland längst eine Pseudo-Demokratie entstanden. Bei der Formung dieses Gebildes hat sich der russische Präsident wohl auch von seinen Erfahrungen in der DDR inspirieren lassen. Von 1985 bis 1990 war er Spion des KGB in Dresden. Als Major der Auslandsspionage pflegte er die Kontakte zur Dresdener Bezirksverwaltung der Stasi, lernte Radeberger Bier lieben und zeugte dort seine zweite Tochter Katja (Jekaterina, geboren 1986 in Dresden). Ihre ältere Schwester Mascha (Maria) wurde 1985 noch in Leningrad geboren.

In Dresden erlebte Putin, der aus einem von einer einzigen Partei beherrschten System kam, dass man die „führende Rolle“ einer kommunistischen Partei auch anders sichern kann. In der DDR gab es ein Mehrparteiensystem, eine Nationale Front, in der die Parteien zusammengeschlossen waren, ein Volkskammer genanntes Pseudo-Parlament und zahlreiche gesellschaftliche Organisationen. Dennoch blieb die SED-Diktatur unangetastet, bis sie 1989 über Nacht zusammenbrach.

Das Parteiensystem in Wladimir Putins Russland ähnelt dem der verblichenen DDR auf erstaunliche Weise. Auch in Russland existieren eine „führende Partei“ in Form von Geeintes Russland sowie drei weitere, völlig vom Kreml abhängige Parteien. Selbst eine Nationale Front gibt es inzwischen, seit Geeintes Russland an Strahlkraft verloren hat.

Die russische Verfassung aus dem Jahr 1994, die bis heute kaum verändert wurde, entspricht auf dem Papier rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen. Russland ist als demokratischer föderativer Rechtsstaat verfasst. Die demokratischen Institutionen sind ebenso garantiert wie die Gewaltenteilung. Die Rechte und Freiheiten der Menschen genießen laut Verfassung höchste Priorität. Der Staat ist zu ihrem Schutz verpflichtet. Ergänzend gibt es einen weitgefassten Grundrechtskatalog, der internationale Vergleiche nicht zu scheuen braucht.

In der Wirklichkeit ist davon nicht mehr viel geblieben, seit Putin im Jahr 2000, protegiert von seinem Vorgänger Boris Jelzin, zum ersten Mal in den Kreml einzog. Die Gewaltenteilung existiert nicht mehr. Der Kreml hat das Parlament zu einem Befehlsempfänger degradiert. Gesetze werden ohne lange Debatten „durchgewinkt“. Eine Opposition, die diesen Namen auch verdient, gibt es nicht mehr. Sie wurde bereits im Vorfeld von Wahlen aus dem Wege geräumt. Die Judikative geriet zur Unterabteilung der Macht im Kreml.

Medienfreiheit existiert nur noch der Form halber. Die – verglichen mit der sowjetischen Zeit – zahlenmäßige Vielfalt täuscht darüber hinweg, dass die Medien bis auf einige wenige Zeitungen und Journale sowie bis auf eine Radiostation und einen Fernsehsender, der nur übers Internet zu empfangen ist, gleichgeschaltet wurden. Das Fernsehen – wichtigstes Instrument zum Machterhalt und zur Machtausübung – ist völlig in der Hand des Kreml. Putin, so analysierte der Moskauer Ökonom Wladislaw Inosemzew, hat in Russland ein System geschaffen, „in dem die Staatsmacht zu einem erdrückenden Monopol“ geworden ist. Doch das spezifisch Russische bestehe darin, dass die kleine herrschende Gruppe um den Kreml-Chef dieses Monopol nach privatem Gusto benutzt. „Im Grunde hat die Staatselite eines der reichsten Länder der Welt gekapert und privatisiert“, resümiert Inosemzew. Das ist die Realität in Russland, hervorgebracht durch einen Vorgang, den die russische Führung als „Reformen“ bezeichnet.

Profitieren Putin und seine ihm loyal ergebene Umgebung von diesem System? Wenig ist darüber bekannt, die Kremlmauern sind informationsundurchlässig. Doch Statussymbole wie Luxusfahrzeuge, Immobilien in prestigeträchtigen Gegenden Russlands, aber auch im Ausland, wo oft auch die Familien leben und die Kinder in teure Privatschulen gehen, legen diese Vermutung nahe. Mit den normalen Einkommen sind derlei Besitztümer nicht zu erklären. Putin selbst, so jedenfalls glaubt der britische Geheimdienst MI6, soll Milliardär sein. Er verfüge über knapp 29 Milliarden Euro, versteckt in verzweigten finanziellen Anlagen, in Scheinfirmen oder bei Statthaltern, die seine Wertpapiere und Aktien halten.

Das mag erklären, warum der Sohn eines Fabrikarbeiters und überzeugten Kommunisten, der Enkel eines Kochs von Stalin, so knallhart reagiert, wenn sich Widerspruch im Lande regt. Sein System der Teilhabe, das für einen relativ kleinen, geschlossenen Kreis gilt, liefe bei einem echten Machtwechsel im Kreml Gefahr, zu einem Bumerang zu werden. Die Nutznießer des gegenwärtigen Zustands müssten nicht nur Macht- und Einnahmeverlust, sondern auch weitreichende rechtliche Konsequenzen fürchten.

Das bestimmt auch sein Verhältnis zum Westen. Es ist eben nicht die angebliche Zurückweisung, die ihn beratungsresistent gegenüber westlichen Einwänden macht. Putin würde natürlich gerne im Westen geliebt werden, aber wichtiger ist ihm seine unangefochtene Rolle in Russland. Und dafür braucht er letztlich die Reputation im Westen nicht. Er nimmt sie entgegen, wenn er sie bekommen kann. Wenn nicht – auch gut. Er gewinnt sogar noch, wenn ihn der Westen ablehnt. Denn das stärkt ihn im Innern.

Die straff vom Kreml gelenkte Propagandamaschine hat das Reich des Bösen inzwischen längst im Westen ausgemacht. Dort verkämen die traditionellen Werte; Moral und Anstand seien auf einem Tiefstand, die Homosexualität werde bewusst nach Russland getragen, um das Land zu zerstören, behauptet beispielsweise Patriarch Kirill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Russische Politiker stimmen begeistert zu. Im Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten sieht man die russische Bevölkerung in der Ukraine bereits vom Genozid bedroht.

Glaubt Putin das? Glaubt er sich selbst, wenn er behauptet, auf der Krim hätten „Selbstverteidigungskräfte“ das Sagen und nicht die russischen Streitkräfte? Glaubt er generell an die Gefahr aus dem Westen? Diese Fragen zu beantworten ist schwer in einem geschlossenen System wie dem russischen. Was seine Überzeugung ist und was Propaganda, das ist unter den obwaltenden Umständen in Russland kaum zu trennen. Allerdings ist es eher unerheblich, ob er Russland tatsächlich als letztes Bollwerk des Anstands und des rechten Glaubens in einem heranbrandenden Meer von Schmutz und Unmoral sieht oder es nur verkünden lässt. In dem Moment, in dem seine Landsleute oder zumindest eine Mehrheit daran glauben, entfaltet diese Sichweise ihre Wirkung. Die Festungswälle werden dichter, die Position des Präsidenten Putin festigt sich weiter.

Im Fall der jüngsten Krise in der Ukraine hat Putin, so scheint es, letztlich auf die Warnungen der westlichen Staaten – sie erhielten in Russland das Beiwort „Hysterie“ – zumindest teilweise gehört. Die aggressiven Töne aus Moskau wurden abgeschwächt, das Manöver an der Grenze beendet, gespannte Ruhe auf der Krim. Was das bedeutet, ist dennoch ungewiss. Über seine eigentlichen Ziele spricht der Kremlchef nicht. Selbst seine Pseudo-Wahlkämpfe führt er ohne Programm. So lassen sich positive Ergebnisse im Nachhinein als eigene Erfolge, Unerwünschtes als Folge widriger Umstände „verkaufen“, oder man lastet sie dem Treiben fremder Kräfte an. An seinen ursprünglichen Absichten kann er nicht gemessen werden, er nennt sie nicht.