Beisetzung eines Jugendlichen wird zu landesweiten Protesten gegen den Regierungschef

Istanbul. Die Gebete im alevitischen Gotteshaus, der Cemevi, enden mit dem Ruf „Allah, Allah!“. Draußen drängen sich Tausende, niemand kann sie zählen, von überall her sind sie gekommen. Mit städtischen Bussen, so weit diese fahren konnten angesichts der Menschenmengen auf den Straßen. Den Rest des Weges zu Fuß. Istanbul nimmt Abschied von Berkin Elvan, der seinen 15. Geburtstag im Koma „erlebte“, bevor er nach neun Monaten starb. Er wog zuletzt nur noch 16 Kilo.

Niemand hat jemals versucht zu ermitteln, welcher Polizist sein Leben auf dem Gewissen hat. Berkin wurde am 16. Juni 2013 während der Gezi-Park-Proteste aus kurzer Entfernung von einem Tränengaskanister am Kopf getroffen. Er war nicht der einzige. Sieben Menschen kamen bei den Protesten gegen den autoritären Führungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan durch Polizeigewalt ums Leben, viele andere wurden schwer verletzt. „Ich gab die Befehle“, sagte Erdogan damals stolz und pries „meine heldenhafte Polizei“, die in Zukunft „noch viel härter“ gegen „diese Plünderer und Terroristen“ vorgehen werde.

Berkin Elvan war kein Plünderer oder Terrorist. Seine Eltern sagen, er sei nur kurz Brot holen gegangen, da sei er getroffen worden. Anhänger der Regierungspartei AKP verweisen auf Fotos, auf denen er angeblich als Protest-Teilnehmer zu erkennen sei. Wie auch immer, er war nur ein Kind. Die Menge ruft beim Protest am Mittwoch die Namen der sieben Opfer. Und nach jedem Namen: „Er lebt!“

Vom Gebetshaus aus setzt sich der Zug in Bewegung in den Stadtteil Sisli, mehrere Kilometer entfernt, und wieder zurück, zum Friedhof Feriköy. Dort wartet ein schmales Grab, Blumen liegen darin auf der braunen Erde. Von Straße zu Straße wächst die Menge an, bald füllt sie die Autobahn E5. Regierungskritiker sprechen etwas überschwänglich von „Millionen“, aber selbst die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu gesteht „Hunderttausende“ ein. Mal wird eine Schweigeminute eingelegt, mal skandiert die Menge ihren Zorn auf die Regierung heraus: „Mörder Erdogan“, oder „Erdogan, schick Bilal zum Brotholen!“ Bilal ist Erdogans Sohn und seit Wochen in aller Munde, seit Telefonmitschnitte im Internet kursieren, in denen der Vater dem Sohn aufträgt, Millionenbeträge aus dem Haus zu schaffen, weil die Staatsanwaltschaft Korruptionsrazzien bei diversen Ministersöhnen abhält. Der Slogan bedeutet so viel wie „Erdogan, lass doch Bilal sterben“.

Es liegt Wut in der Luft, nicht nur in Istanbul. Schon am Vorabend hatten Zehntausende in mehr als 20 Städten der Türkei demonstriert, dabei wurden mindesten 150 Menschen verhaftet und mehrere auf dieselbe Art verletzt wie Berkin Elvan: Durch direkte Treffer gezielter Tränengasschüsse auf den Körper. Andere bluteten, weil sie durch Plastikgeschosse getroffen oder von Polizeifahrzeugen angefahren worden waren. Auch an diesem Mittwoch, während Berkin begraben wird, hat die Regierung Zurückhaltung gelobt. Scheinheilig: Noch bevor der Sarg im Grab liegt, gehen Wasserwerfer in Izmir gegen Demonstranten vor, sprengt die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern in Ankara eine Kundgebung. Auch in anderen Städten wird bereits wieder demonstriert.

In Istanbul kommt es kurz nach vier Uhr zu ersten Zusammenstößen. Die Menschen wollen nach dem letzten Geleit für Berkin Elvan zum Taksim-Platz marschieren. Das hat der Gouverneur verboten. Viele Hundertschaften der gefürchteten Bereitschaftspolizei gehen in Stellung, Wasserwerfer blockieren weiträumig alle Zufahrten zum Taksim und dem dortigen Gezi-Park, ein Symbol-Ort des Widerstands gegen die Regierung. Denn da hatten sich die ersten Proteste gegen Erdogan entzündet, als der Park abgerissen werden sollte, um einem kitschigen Einkaufszentrum im pseudo-osmanischen Stil Platz zu machen. Nach landesweiten Protesten, an denen sogar nach Regierungsangaben mehr als vier Millionen der insgesamt 75 Millionen Türken in 81 Städten teilnahmen, wurde das Projekt zunächst gestoppt. Doch wie um die Menge zu reizen, ist der Tag von Berkin Elvans letzter Reise auch der Tag, an dem ein Gericht entscheidet, dass das Bauprojekt legal ist. Ab sofort kann der Gezi-Park jederzeit planiert werden. Zuvor hatte die Regierung durch eine Gesetzesänderung die politische Kontrolle über Richter und Staatsanwälte und damit über die Gerichte erzwungen. Kein Wunder also, wenn diese fortan so entscheiden, wie Erdogan es will.

Der Ministerpräsident hält derweil eine Wahlkampfrede weit im Osten des Landes. Am 30. März sind Lokalwahlen, und er hat ein Problem: Weil er sich so gebärdet, dass ihm wirklich nur noch die hartgesottenen Muslime folgen wollen, ist seine persönliche Beliebtheit in den veröffentlichten Umfragen von rund 70 auf weniger als 50 Prozent gesunken. Seine Partei, die AKP, darf demzufolge nur noch mit rund 36 Prozent der Stimmen rechnen. Immer noch viel, aber nicht genug, um Erdogans Traum zu verwirklichen, der erste gewählte Präsident des Landes zu werden. Und vielleicht auch nicht genug, um nach den Parlamentswahlen im nächsten Jahr ohne Koalitionspartner zu regieren. Ein solcher ist aber nicht in Sicht.