Ehemaliger iranischer Geheimdienstoffizier beschuldigt Irans Revolutionsführer. Libyens Despot Gaddafi war demnach nicht der Drahtzieher

Hamburg/London. Im Dezember 2012 ließ Mahmud Nacua, der Botschafter der neuen libyschen Regierung in London, mit einer Prophezeiung aufhorchen: Bald werde die ganze Welt die volle Wahrheit über das Terrordrama von Lockerbie erfahren. Allerdings werde dies noch mindestens ein Jahr dauern, da sich die Regierung nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi erst stabilisieren müsse.

Dabei schien doch seit Langem klar zu sein, was am 21. Dezember 1988 geschehen war: Eine Boeing 747 der US-Fluggesellschaft Pan Am, Flug 103, explodierte über dem schottischen Ort Lockerbie, weil Gaddafi eine Bombe an Bord schmuggeln ließ. 270 Menschen starben. Ein libyscher Geheimdienstoffizier namens Abdelbaset al-Megrahi wurde als Verantwortlicher für den Anschlag identifiziert und zu lebenslanger Haft verurteilt, 2009 aber aufgrund einer unheilbaren Krebserkrankung freigelassen. Gaddafi räumte 2003 seine Schuld ein und zahlte 2,7 Milliarden Dollar Entschädigung an die Hinterbliebenen der 270 Opfer.

Es hieß, er habe sich rächen wollen für die US-Luftangriffe auf Tripolis und Bengasi 1986, bei denen unter anderen eine nahe Verwandte Gaddafis ums Leben gekommen sein soll.

Doch ernsthafte Zweifel an dieser offiziellen Version der Ereignisse gab es seit Jahren. Am Dienstag berichtete die Onlineausgabe der Londoner Zeitung „Daily Telegraph“ in großer Aufmachung über eine neue Lockerbie-Dokumentation des arabischen Senders al-Dschasira, für die bislang unbekanntes Material verwendet werden konnte, das ein früherer US-Staatsanwalt gesammelt hatte.

Zudem konnte ein ehemaliger iranischer Geheimdienstoffizier dazu gehört werden, der die damaligen Vorgänge offenbar genau kannte. Der Mann namens Abolghassem Mesbahi berichtete früher direkt an den damaligen iranischen Staatspräsidenten Haschemi Rafsandschani und hatte Zugang zur Führungsspitze unter Ajatollah Ruhollah Khomeini.

Mesbahi floh in den 90er-Jahren nach Deutschland, wo er mithilfe eines Zeugenschutzprogramms untertauchte. Seine nun veröffentlichten Aussagen sollten damals für eine Neuaufnahme des Verfahrens gegen den angeblichen Drahtzieher Megrahi verwendet werden. Dazu kam es aber nicht mehr, weil Megrahi aus Gesundheitsgründen entlassen wurde. Er starb 2012 in Libyen.

Mesbahi bestätigte gegenüber al-Dschasira frühere westliche Geheimdienst-Berichte, dass nicht Gaddafi den Anschlag auf Flug 103 befohlen habe, sondern der iranische Revolutionsführer Khomeini. Der als rachsüchtig bekannte „Alte von Ghom“ wollte Vergeltung üben für den mutmaßlich irrtümlichen Abschuss eines Airbus der Iran-Air, Flug 655, durch den amerikanischen Lenkwaffenkreuzer „USS Vincennes“ am 3. Juli 1988. 290 Menschen starben. Der Kapitän der „Vincennes“ wurde später für den Abschuss befördert; das US-Abwehrsystem Aegis hatte den Airbus für eine angreifende iranische F-14 Tomcat gehalten.

Die Dokumentation von al-Dschasira fußt auch auf einem Bericht des ZDF-Autoren Christoph Caron. Dieser hatte bereits im Jahr 2008, offenbar weltexklusiv, ein Interview mit entsprechenden Aussagen mit Mesbahi geführt. Dieses Material sei Al-Dschasira vom ZDF zur Verfügung gestellt worden.

Überläufer Mesbahi berichtete, der wütende Khomeini habe angeordnet, als Vergeltung eine amerikanische Verkehrsmaschine zu sprengen, und befohlen, die Opferzahl müsse etwa der von Flug 655 entsprechen. Mit der Durchführung sei der Syrer Ahmed Dschibril beauftragt worden, Chef der berüchtigten Terrorgruppe „Volksfront für die Befreiung Palästinas – Generalkommando“ (PFLP-GC). Er erhielt angeblich mehrere Millionen Dollar dafür.

Dschibril, Ex-Offizier der syrischen Armee, hatte das Hauptquartier der PFLP-GC in Damaskus eingerichtet. Zwei der von ihm beauftragten Bombenleger, Hafez Dalkamuni und Marwan Khreesat, konnten noch vor dem Lockerbie-Anschlag von der deutschen Polizei verhaftet werden; vier Bomben wurden gefunden. Die Existenz einer fünften Bombe wurde vermutet, doch wurde sie nicht gefunden. Sie detonierte dann über Lockerbie. Der frühere CIA-Agent Robert Baer hat ausgesagt, die CIA und der US-Geheimdienst NSA waren schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass die PFLP-GC und der Iran hinter dem Anschlag steckten.

Bush und Thatcher wollten die Beziehungen zu Syrien schützen

Doch die entsprechenden Untersuchungen seien plötzlich in eine andere Richtung gelenkt worden, nachdem der damalige US-Präsident George H. W. Bush und die britische Premierministerin Margaret Thatcher miteinander telefoniert hatten. Hintergrund war offenbar, dass Bush und Thatcher vermeiden wollten, Syrien an den Pranger zu stellen. Syrien sollte die USA und Großbritannien Anfang 1991 im Golfkrieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein unterstützen und war als arabischer Alliierter unverzichtbar.

Zudem habe Bush sich auch nicht gegen den Iran wenden wollen, weil Washington mitten in schwierigen Verhandlungen mit Teheran über die Freilassung westlicher Geiseln gewesen sei, schrieb der „Telegraph“.

Dass Gaddafi die Verantwortung für den Anschlag übernommen und Entschädigung gezahlt hatte, erklärt sein Sohn Saif al-Islam mit einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung. Gaddafi fand es billiger, diese Summe zu zahlen, als weiter unter den westlichen Sanktionen zu leiden, die seine Wirtschaft verkrüppelten. Er hoffte zu Recht auf lukrative Ölgeschäfte, von denen einige dann vom britischen Ex-Premier Tony Blair eingefädelt wurden.

Im vergangenen Dezember waren Aussagen des ehemaligen CIA-Agenten Dr. Richard Fuisz in britischen Medien aufgetaucht. Fuisz hatte 2001 für das Berufungsverfahren im Fall Megrahi berichtet, dass ihm bis zu 15 hohe syrische Geheimdienstoffiziere versichert hätten, die PFLP-GC habe den Anschlag von Lockerbie begangen. Dies hätten ihm gegenüber auch CIA-Vorgesetzte bestätigt. Fuisz sagte auch, Dschibril sei in ständigem Kontakt mit Syriens Geheimdienst gewesen.

Der Sprecher der Hinterbliebenen von Lockerbie, Dr. Jim Swire, dessen 23 Jahre alte Tochter Flora unter den Todesopfern war, hatte schon früh vom „Blödsinn des Megrahi-Falles“ gesprochen. Swire ist seit Langem überzeugt davon, dass die PFLP-GC die Maschine in die Luft gesprengt hat. Er begrüßte die neuen Enthüllungen und sagte, er habe keinerlei Zweifel, dass Megrahi unschuldig gewesen sei.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes war davon die Rede, dass al-Dschasira der erste Sender war, der ein Interview mit Abolghassem Mesbahi führte. Das ist offenbar nicht korrekt. Der ZDF-Autor Christoph Caron weist darauf hin, dass er bereits im Jahr 2008 weltexklusiv ein Interview mit entsprechenden Aussagen mit Mesbahi geführt hatte, das damals auch gesendet wurde. Dieses Material sei al-Dschasira vom ZDF zur Verfügung gestellt worden.