Die Ukraine sucht nach Stabilität. Doch die politischen Lager sind zersplittert und das Land pleite

Viele Ukrainer hatten es einfach satt, von ebenso autoritären wie korrupten Politikern und zwielichtigen Oligarchen ausgeplündert zu werden – ohne Hoffnung auf eine Verbesserung der eigenen Lebensumstände. Die erwartete man allenfalls aus Richtung Europa. Als der mittlerweile gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU stoppte, stattdessen eine nähere Anbindung an Moskau drohte, war für viele der sonst so geduldigen Ukrainer die Schmerzgrenze erreicht. Sie revoltierten.

Doch nun rächen sich die Versäumnisse aller Machthaber seit der Unabhängigkeit des Landes 1991: Keiner hat es geschafft oder auch nur versucht, aus dem heterogenen Gebilde Ukraine eine moderne Nation zu formen. Seit dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert gingen der West- und der Ostteil des Landes getrennte Wege. Der Westen um Lwiw, dem früheren Lemberg, wurde Bestandteil des polnisch-litauischen Staates und nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert bis 1918 Österreich-Ungarns. Süden und Osten wurden in jahrhundertelangem Ringen von Russland erst den Tataren und dann dem Osmanischen Reich entrissen und wieder besiedelt. In ihrer Zeit als Sowjetrepublik wurden alle Differenzen mit kommunistischer Ideologie verkleistert und staatlicher Härte abgewürgt. Nach der Unabhängigkeit ging es den alten und neuen Eliten vordringlich um schnellen Reichtum und Machtsicherung. Für die unterschiedlichen Interessen und Orientierungen der Landesteile und das darin schlummernde Konfliktpotenzial hat sich kaum jemand interessiert.

Das zu entschärfen ist eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Machthaber. Allerdings agieren sie bisher nicht unbedingt weitsichtig. Einer der ersten Beschlüsse des Parlaments nach dem Umsturz bestand darin, Russisch als zweite offizielle Amtssprache zu streichen. Die Absicht ist klar: Das Land soll sich eindeutig nach Westen, Demokratie und Wohlstand ausrichten, nicht mehr nach dem autoritären und korrupten russisch-postsowjetischen Modell. Ohne Fingerspitzengefühl sowie Mut und Bereitschaft zu Kompromissen wird das aber schwierig. Hinzu kommt, dass die ehemalige Opposition selbst keine homogene Einheit ist. Das Spektrum reicht von den EU-orientierten liberalen Kräften bis zum „Rechten Sektor“, einer Vereinigung von rechtsradikalen und neofaschistischen Splittergruppen – antiliberal, antisemitisch und stramm nationalistisch-antirussisch. Exzesse ihrerseits könnten Moskau den Vorwand zum aktiven Eingreifen liefern.

Obendrein droht der Ukraine ein Staatsbankrott. Nachdem Moskau seine Finanzzusagen wegen der unsicheren Verhältnisse in Kiew auf Eis gelegt hat, ruft die neue Führung nach ausländischen Hilfen in Höhe von 35 Milliarden US-Dollar, also rund 25,5 Milliarden Euro. Als Geber kämen der Internationale Währungsfonds (IWF), die EU – aber auch Russland infrage. Vielleicht ist es das (fehlende) Geld, das im Fall der Ukraine nicht zum Streit, sondern zur Zusammenarbeit aller beteiligten Parteien führt. Denn schließlich wäre eine stabile Ukraine nicht nur für deren Bewohner zum Vorteil, sondern auch für Europa und Russland.