Kritiker fordern Neustart der Ukraine mit unverbrauchten Gesichtern. Land benötigt dringend 35 Milliarden Dollar

Kiew. Noch immer stehen die Barrikaden rund um den Maidan. Tausende sind bei Sonnenschein im Zentrum Kiews unterwegs. Einerseits herrscht Erleichterung, dass die oft als autokratisch empfundene Herrschaft von Präsident Viktor Janukowitsch beendet ist. Andererseits ist die Trauer über die beinahe 100 Opfer der blutigen Straßenkämpfe noch immer gewaltig. Überall in der Innenstadt liegen rote Nelken zum Gedenken an die Opfer. Windlichter flackern.

Nach der Flucht Janukowitschs und der Rückkehr der Oppositionsführerin Julia Timoschenko aus der Haft hat die Revolution ihre wichtigsten Ziele erreicht. Aber viele stört das kompromisslose Vorgehen der bisherigen Opposition. Nach Janukowitsch lassen die neuen Machthaber wegen „Massenmordes“ fahnden. Übergangspräsident Alexander Turtschinow, rechte Hand Timoschenkos, peitscht im Eiltempo neue Gesetze durch die Oberste Rada. „Im Vergleich mit Ihnen war der bisherige Parlamentschef Wladimir Rybak ein Superdemokrat“, schimpft der mutmaßlich neue Oppositionsführer Sergej Tigipko, Abgeordneter von Viktor Janukowitschs Partei der Regionen.

Unmut löst auch aus, dass die Oberste Rada ein umstrittenes Gesetz abschafft, das Russisch in vielen Regionen der Ex-Sowjetrepublik zur zweiten Amtssprache macht. Der russischsprachige Osten und Süden – nach dem Sturz von Janukowitsch ohnehin seiner Identifikationsfigur beraubt – fürchtet eine Unterdrückung durch die antirussisch gestimmten Sieger des Machtkampfs. Schon mahnt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), den Zusammenhalt des Landes zu bewahren. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt vor Rachegelüsten. Die künftigen politischen Führer müssten vielmehr die Eskalation der Gewalt stoppen, sagte der SPD-Politiker. Bei Protesten gegen Janukowitsch waren allein seit Dienstag mindestens 82 Menschen getötet worden. Dabei schossen Scharfschützen gezielt auf Demonstranten.

Hinter den Kulissen ist längst das Gerangel um Posten und Einfluss ausgebrochen. Spannend ist die Frage, wem das künftig deutlich mächtigere Amt des Regierungschefs zufällt. Als aussichtsreicher Kandidat gilt Arseni Jazenjuk, derzeit Fraktionschef von Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna). Timoschenko selbst hat abgewinkt, sie will wohl lieber Präsidentin werden. Gegen den Willen der 53-Jährigen dürfte kaum etwas geschehen, meinen Beobachter in Kiew. Dabei ist die einstige Unternehmerin mit ihrem gewaltigem Privatvermögen unter den Demonstranten, die weiter auf dem Maidan ausharren, selbst umstritten. Schon fürchten viele eine Wiederholung von 2004, als die neuen Machthaber nach der demokratischen Orangen Revolution die Interessen ihrer Unterstützer missachteten – und damit Janukowitsch den Weg ins Präsidentenamt ebneten. „Es sieht so aus, als ob sich eine Regierung des nationalen Misstrauens bildet“, schreibt Popstar Ruslana in einem Blog. „Alles hinter den Kulissen. Erneut Populisten anstelle von Profis.“ Schon fordern die ersten ein totales Politikverbot für Timoschenko und einen kompletten Neustart mit unverbrauchten Gesichtern.

Eine wichtige Rolle sollen künftig auch die Vertreter des Protestlagers auf dem Maidan spielen. Auch Timoschenko fordert die Aufnahme dieser Vertreter in eine neue Regierung. Vor allem die radikale Gruppe Rechter Sektor, die an den Barrikadenkämpfen an vorderster Front beteiligt war und gewaltigen Zulauf erlebt, weiß um ihren Einfluss und droht: „Die Revolution fängt erst an.“ Eine Einbindung radikaler antirussischer Kräfte aber – wenn sie denn selbst überhaupt zur Verantwortung bereit sind – könnte nicht nur den Osten und Süden noch mehr vor den Kopf stoßen. Der wichtige Nachbar Russland warnt seit Wochen vor genau diesem Szenario. „Falls sich Leute, die in schwarzen Masken und mit Kalaschnikow-Sturmgewehren durch Kiew schlendern, als Regierung bezeichnen, so wird die Arbeit mit einem solchen Kabinett sehr schwierig sein“, sagt Regierungschef Dmitri Medwedew. Es gebe „große Zweifel“ an ihrer Legitimität. Das offen russlandkritische Vorgehen und der klare Westkurs der neuen Führung stoßen im Kreml auf Misstrauen. Russland wisse derzeit nicht, wer sein Ansprechpartner in Kiew sei. Westliche Staaten kritisierte Medwedew für ihre rasche Anerkennung der neuen Staatsführung nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch.

Janukowitsch ist dagegen weiter untergetaucht. Nur noch eine Handvoll Leibwächter und sein Vertrauter Andrij Kljuew seien bei dem 63-Jährigen, erklärte der amtierende Innenminister Arsen Awakow. Am späten Sonntagabend habe der Ex-Präsident sich auf der Halbinsel Krim aufgehalten, wo die Bevölkerung überwiegend mit Russland sympathisiert. Dort habe Janukowitsch ein Anwesen in Balaklawa per Auto mit unbekanntem Ziel verlassen. Am Sonnabend hatte das Parlament ihn abgesetzt und Alexander Turtschinow zum Übergangspräsidenten ernannt.

Nicht nur auf politischer Ebene muss die neue Führung in Kiew rasch für Ruhe sorgen. Die Ukraine steht auch kurz vor dem Finanzkollaps, nachdem Russland Milliarden-Geldspritzen auf Eis gelegt hat. Die erste Tranche an Hilfen sei bereits in ein bis zwei Wochen nötig, sagte Finanzminister Kobolow. In den vergangenen zwei Tagen habe es Beratungen mit der EU, den USA, anderen Ländern und Finanzorganisationen gegeben. Zu Gesprächen über Hilfsmaßnahmen ist die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nach Kiew gereist. Aus der EU-Kommission verlautete, die Europäische Union habe Kontakt mit den USA, Japan, China, Kanada und der Türkei aufgenommen, um Hilfen für die Ukraine zu koordinieren. Die EU könne eine Geberkonferenz organisieren, um kurzfristig Finanzhilfen bereitzustellen. Die EU hat der Ukraine bereits finanzielle Hilfe zugesagt, knüpft diese aber an Reformen.

Russland hat als Reaktion auf den Machtwechsel den Geldhahn zugedreht und Milliardenhilfen auf Eis gelegt. Die Ukraine hofft nun, dass der Nachbar nicht auch die Gaspreise anhebt. Die katastrophale Wirtschaftslage bereitet vielen Angst. Der kommissarische Vizeregierungschef Alexander Wilkul ordnet an, alle Zahlungen aus dem Staatshaushalt bis auf Löhne und Gehälter vorerst einzustellen. Schon gibt es Berichte, dass sich die Kiewer mit Vorräten eindecken und es zu Hamsterkäufen von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs kommt.