Bürgerkriegsähnliche Zusammenstöße in Kiew. EU-Minister beschließen Sanktionen

Kiew. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew sind bei bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen Dutzende Menschen getötet worden. Bei den Straßenkämpfen kamen am Donnerstag sowohl Demonstranten als auch Polizisten ums Leben – obwohl beide Seiten noch am Vortag Waffenruhe vereinbart hatten.

Augenzeugen berichteten von Scharfschützen, die von Häusern aus Menschen ins Visier genommen hätten. Viele Regierungsgegner seien auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan jeweils „mit einer einzigen Kugel“ erschossen worden, sagte ein Arzt. Das spräche für Profis, die auf Hunderte Meter genau treffen. Auch Männer, die Verwundete bergen wollten, wurden beschossen.

Wer hinter den Schüssen steckt, blieb unklar. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld. Von „Extremisten“ mit Scharfschützengewehren sprach die Regierung. Die Opposition war der Meinung, die Schützen seien Mitarbeiter des Geheimdienstes SBU oder bezahlte Provokateure von Regierungsseite. Beobachter argwöhnten, es könnten sogar Spezialeinheiten aus Russland sein, die in die Menge feuern, um für Chaos zu sorgen. Nach Regierungsangaben kamen auch Dutzende Polizisten ums Leben oder wurden verletzt. Zudem sollen Regierungsgegner 67 Polizisten als Geiseln genommen haben. Für deren Befreiung seien „alle rechtlichen Mittel“ denkbar, auch Waffengewalt, hieß es. Einwohner flohen aus der Stadt, die Straßen waren verstopft.

Auch im Rest des Landes drohte die Eskalation. Im antirussisch geprägten Westen rund um die Großstadt Lwiw (Lemberg) sahen sich die Regierungsgegner im Aufwind. Sie überrannten Verwaltungsgebäude, setzten Polizeistationen in Brand, vernichteten Dokumente. Auf der Halbinsel Krim hingegen drohten moskautreue Kräfte damit, sich wieder Russland anzuschließen – falls Präsident Janukowitsch stürzt.

Die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen versuchten eine politische Lösung zu finden. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und seine Kollegen Laurent Fabius und Radoslaw Sikorski berieten in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Nach Angaben des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk hat sich Janukowitsch bereit erklärt, in diesem Jahr vorgezogene Wahlen abzuhalten. Das ukrainische Parlament beschloss fast einstimmig ein Ende des „Anti-Terror-Einsatzes“ im Land. Die Abgeordneten verlangten, dass sich alle Einheiten in ihre Kasernen zurückziehen. Zudem untersagten die Parlamentarier fast einstimmig den Einsatz von Schusswaffen. Anwesend waren 238 Abgeordnete von offiziell 450. Zwar muss Präsident Janukowitsch den Beschluss noch unterzeichnen. Beobachter sprachen aber von einem wichtigen Zeichen. Der Geheimdienst SBU hatte den „Anti-Terror-Einsatz“ am Vortag angekündigt.

Die EU hat Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die Gewalt in der Ukraine und ein Lieferverbot für Repressionsgüter beschlossen. Die EU-Minister verständigten sich darauf, Einreiseverbote und Kontosperren zu verhängen. Italiens Außenministerin Emma Bonino sagte, der Beschluss ziele auf alle „mit Blut an den Händen“. Das Ausmaß der Strafmaßnahmen macht die EU von den Entwicklungen vor Ort abhängig. Zugleich erhöhte Russlands Ministerpräsident Dmitri Medwedew den Druck auf Janukowitsch, sich gegen die Opposition durchzusetzen.