Neun Tote bei Straßenschlachten. Demonstranten zünden Lastwagen an und werfen Steine auf Polizisten. Diese schießen scharf zurück

Kiew. Nach Wochen angespannter Ruhe ist der Machtkampf in der Ukraine blutig eskaliert. Mindestens neun Menschen kamen bei Ausschreitungen zwischen der Opposition und Polizeieinheiten in der Hauptstadt Kiew am Dienstag ums Leben. Sieben Zivilisten und zwei Sicherheitskräfte seien getötet worden, meldeten die Agenturen am Abend.

Die Lage spitzte sich am Nachmittag dramatisch zu, als Sicherheitskräfte auf den zentralen Unabhängigkeitsplatz Maidan im Zentrum vorrückten. Dort befanden sich schätzungsweise 20.000 Menschen. Am Dienstagabend lief ein Ultimatum der Staatsmacht zur Räumung des Maidan ab. Kurz vor Ablauf dieser Frist hatte der ukrainische Oppositionsführer Vitali Klitschko alle Frauen und Kinder dort aufgerufen, den Platz zu verlassen.

Angesichts der massiven Gewalt will sich Präsident Viktor Janukowitsch an diesem Mittwoch erneut mit Oppositionsführern treffen.

Drei Regierungsgegner seien erschossen worden, teilten Aktivisten zunächst bei Twitter mit. Die getöteten Demonstranten sollen mit Schüssen in Herz und Kopf aufgefunden worden sein. Die Opposition machte Mitglieder der berüchtigten Polizeispezialeinheit Berkut (Steinadler) verantwortlich. Im Internet kursierten Fotos von einem Priester, der drei mit Papier bedeckte Körper segnete. Nach Angaben des Innenministeriums wurden auch 18 Angehörige der Sicherheitskräfte mit Schussverletzungen in Krankenhäuser gebracht.

Die ukrainische Justiz gab den Oppositionsführern wie Vitali Klitschko die Schuld an den blutigen Straßenschlachten in Kiew. „Für jeden Verletzten, für jedes angezündete Auto und zerschlagene Fenster werden die Organisatoren der Massenunruhen die Verantwortung übernehmen müssen“, teilte Generalstaatsanwalt Viktor Pschonka mit. Er forderte „die schärfste Bestrafung“. Allein die Regierung sei an einer friedlichen Regelung der Krise interessiert, behauptete Pschonka.

Der seit Monaten andauernde Machtkampf in der Ukraine hatte sich an der prorussischen Politik von Präsident Janukowitsch entzündet. Die Opposition verlangt unter anderem eine Stärkung der parlamentarischen Rechte in der früheren Sowjetrepublik.

Bei der Erstürmung eines Büros der regierenden Partei der Regionen in Kiew durch Regierungsgegner wurde nach Angaben der Rettungskräfte mindestens ein Mann getötet. Die Partei teilte Medien zufolge mit, bei dem Opfer handele es sich um einen Sicherheitsmann. Der Abgeordnete Oleg Zarjow sprach sogar von zwei Toten. Regierungsgegner hatten das Büro gestürmt und verwüstet. Nach Zarjows Darstellung legten sie dabei auch Feuer. Nach wenigen Minuten wurden sie von den Sicherheitskräften vertrieben. Ein Polizist starb nach Regierungsangaben auf dem Weg ins Krankenhaus.

Die U-Bahn Kiews wurde am späten Nachmittag komplett gesperrt. Damit drohte der Nahverkehr in der Metropole mit etwa 2,8 Millionen Einwohnern zusammenzubrechen. „Die Metro fährt nicht mehr“, sagte ein Metrosprecher der Agentur Interfax.

Sicherheitskräfte rückten gegen die Barrikaden der Regierungsgegner auf dem Maidan vor. Sie setzten Rauchgranaten ein, wie örtliche Medien berichteten. Die Demonstranten warfen Brandsätze. Von der Bühne auf dem Maidan riefen Redner die Protestierer auf, den Platz zu verteidigen.

Radikale Regierungsgegner besetzten laut Polizei erneut das Gebäude der Stadtverwaltung in Kiew. Die Demonstranten hätten Brandsätze geschleudert und Autos angezündet, teilte die Miliz mit. Die Oppositionsanhänger hatten das Gebäude erst am Montag nach monatelanger Besetzung verlassen. Im Gegenzug hatte die Justiz mehr als 240 festgenommene Protestierer begnadigt. Zuletzt hatten 30 Sicherheitskräfte die Stadtverwaltung bewacht.

Parlamentspräsident Wladimir Rybak sagte, an dem Gespräch mit Janukowitsch am Mittwochvormittag solle auch Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko teilnehmen. Bedingung sei aber, dass die Regierungsgegner jede Gewalt einstellten, sagte Rybak.

Der ukrainische Geheimdienst SBU und das Innenministerium hatten den Regierungsgegnern ein Ultimatum für ein Ende der Gewalt bis Dienstag 18.00 Uhr Ortszeit (17.00 Uhr MEZ) gestellt. Sonst würden „alle vom Gesetz erlaubten Mittel“ eingesetzt, um das Chaos zu beenden, hieß es in einer gemeinsamen Mitteilung der Behörden. Die Oppositionsführer müssten unverzüglich dafür sorgen, dass die Ausschreitungen sofort beendet würden und an den Verhandlungstisch zurückkehren.

Die ukrainische Führung forderte die internationale Gemeinschaft auf, die Gewalt von Regierungsgegnern zu verurteilen. „Radikale Kräfte haben in Kiew und anderen Städten der Ukraine einen neuen, durch nichts zu rechtfertigenden Ausbruch von Gewalt und Gesetzlosigkeit initiiert“, zitierten Medien den amtierenden Außenminister Leonid Koschara. „Die sogenannten Demonstranten begehen bewaffnete Überfälle auf Regierungsgebäude, zünden Gebäude an, verletzen Sicherheitskräfte schwer, setzen Schusswaffen ein und fordern andere Bürger dazu auf.“

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zeigte sich „tief besorgt“ über die „schwere neue Eskalation“ des Konflikts in der Ukraine und die neuen Opfer . „Ich verurteile alle Gewalt“, erklärte Ashton am Dienstag in Brüssel. „Ich mahne die Regierung in der Ukraine, sich mit den Ursachen der Krise zu befassen.“ Die führenden Politiker in Kiew müssten die Bedingungen für eine dauerhafte politische Beilegung der Krise schaffen, forderte Ashton. Dazu gehörten die Bildung einer neuen Regierung unter Beteiligung der Opposition, eine Verfassungsreform und Präsidentschaftswahlen.

Die US-Regierung forderte von der ukrainischen Staatsführung ein sofortiges Ende der Gewalt. „Die Konfrontation auf dem Maidan“ müsse umgehend gestoppt werden, teilte das Weiße Haus in Washington mit. Auch Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zeigte sich „ernsthaft besorgt“ über die dramatischen Ereignisse in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. „Ich rufe alle Seiten auf, von Gewalt Abstand zu nehmen und schnell einen Dialog aufzunehmen“, sagte er in Brüssel.