Jennifer Mascia und Joe Nocera sammeln die Geschichten von Schusswaffenopfern in den USA. Oft sind es Kinder

Washington. Mark Gregory Bodden, 44, starb am Montag in Cary, North Carolina, durch die Hand seines Bruders Kevin Leroy, 54, nach einem Streit über Geld für das Einkaufen. Eine 41 Jahre alte Frau, die einen Streit zwischen ihren Eltern schlichten wollte, wurde am Montag von ihrem Vater auf einem Parkplatz in Roseville, Michigan, durch einen Schuss in die Brust schwer verletzt. Eine Autofahrerin schoss in Bliss, Idaho, auf ihren Beifahrer, nachdem die Polizei sie wegen defekter Scheinwerfer angehalten hatte. Daraufhin eröffnete der Polizist das Feuer auf die Fahrerin; beide Schussverletzte schweben in Lebensgefahr. Wir ersparen dem geneigten Leser die Monotonie der übrigen 32 mediennotorischen Toten und Verletzten durch Schusswaffen in den Vereinigten Staaten von Amerika am Montag, den 3. Februar. Es war ein Tag wie andere, keine besonders blutigen Vorkommnisse in einem Land mit rund 300 Millionen Feuerwaffen. Eine Waffe pro Kopf für Greise wie Neugeborene.

Joe Nocera, Wirtschaftskolumnist der „New York Times“ erspart den Lesern seines Blogs gar nichts. Unter dem Eindruck des Schulmassakers von Newtown Mitte Dezember 2012 begann Nocera zusammen mit seiner Assistentin Jennifer Mascia eine tägliche Sammlung von Google-Berichten der Schusswaffenopfer vom Vortag zu veröffentlichen. Der Blog erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es fehlen schon die Selbstmorde, etwa 60 Prozent der Erschossenen und Angeschossenen an jedem Tag. Die staatlichen Centers for Desease Control and Prevention beklagen nahezu 32.000 Tote im Jahr durch Schusswaffen in Amerika.

Die Banalität der Schießwut zu dokumentieren genügt Joe Nocera nicht. Am Dienstag stellte er nach dem ersten Jahr seines „Gun Reports“ ein Fazit in fünf Punkten vor: „Erstens, die größte Überraschung: wie regelmäßig entweder Kinder aus Versehen andere Kinder mit Schusswaffen verletzen oder Erwachsene Kinder anschossen, während sie ihre Waffen luden.“

Zweitens: „Der Glaubenssatz der Waffenlobby, Waffen im Haus machten uns sicherer, ist nachweislich unwahr.“ Immer mehr Amerikaner werden im Streit erschossen, Streit unter Freunden, Nachbarn, Familienmitgliedern, oft von Alkohol befeuert. Zunehmend kommt es zu Fällen wie diesem in einem Kino in Florida: Ein Besucher regt sich auf über einen anderen, der während der Vorfilme mit dem Smartphone textet – und erschießt ihn. Und während US-Präsident Barack Obama in seiner Rede zur Lage der Nation am vergangenen Dienstag über die Notwendigkeit von Waffenkontrollen sprach, wurde an der Tennessee State University einem 20 Jahre alten Mann bei einem Streit über Spielschulden ins Bein geschossen. „Bürger sein bedeutet aufstehen für die Leben, die uns Waffengewalt jeden Tag stiehlt“, meinte Obama – ohne bisher konkrete Schritte gegen die Waffenlobby unternommen zu haben.

Nun ist die libidinöse Beziehung vieler Amerikaner zu Gewehren und Revolvern bekannt, unheilbar und so lästig wie langweilig für jene in den USA wie im Ausland, die diese Liebe zur Knarre so pervers finden wie Selbstmordattentate. Kein Massaker ist den Amerikanern und dem Kongress blutig genug, um an das Grundrecht zu rühren, Waffen zu besitzen und tragen zu dürfen. So wurde der Westen erobert, und was Anfang des 19. Jahrhunderts in gesetzloser Wildnis nötig erschien, soll heute erst recht richtig sein.

„Menschen töten, nicht Waffen“, predigt die Lobby der National Rifle Association (NRA). Bewaffnet Schüler, Lehrer, Priester, Piloten, Ärzte, jeden gottgefälligen Bürger fordert sie: Und die Kriminellen haben keine Chance. Der Traum des Schützenbundes ist die permanente Schießerei zwischen Gut und Böse. Wer den Showdown gewinnt, versteht sich. Wie man aus Filmen weiß, schießen Schurken schlecht.

„Drittens“, notiert Nocera, „Banden-Schießereien sind überall.“ In Chicago, Detroit und Miami, auch in kleineren Städte. Die Gangster wollten einander umlegen, aber sie träfen oft unschuldige Opfer. Viel zu häufig Kinder, die zur falschen Zeit am falschen Ort seien. Sarkastisch bemerkt Nocera, dass Waffen-Liebhaber, die seinen Blog kritisieren, zuverlässig das Codewort „demografisch“ benutzen, wenn sie Gewalt zwischen Gangstern meinen. Die sei nicht zu ändern, schreiben sie. Im Klartext: Schwarze, Latinos, Außenseiter aller Art sollten sich ruhig über den Haufen schießen, um sie sei es nicht schade.

Dieselben Kritiker beschweren sich regelmäßig, Joe Nocera und Jennifer Mascia führten nicht die vielen Fälle auf, in denen Waffenbesitz ein Verbrechen verhindert hätte: „Das geschieht nicht, weil wir voreingenommen wären“, argumentiert Nocera, „sondern weil es nicht sehr häufig vorkommt. Wenn wir davon erfuhren, haben wir es in den Report aufgenommen.“

Die beiden treuen Buchhalter der Schusswaffengewalt in Amerika machen sich keine Illusionen. An der Überrüstung werde sich nichts ändern. Sicher sei immerhin nach einem Jahr des Studiums, dass viele Amerikaner noch leben könnten, wenn es weniger Waffen gäbe: „Die Typen im Kino würden sich stattdessen prügeln. Und der Selbstmörder würde vielleicht noch einmal innehalten, wenn es schwieriger wäre, sich das Leben zu nehmen. Die Idee, dass Waffen, aufs Ganze gesehen, Leben retten, ist lachhaft. Im Gegenteil, schließt Joe Nocera: „Die klarste Botschaft, die der ,Gun Report‘ aussendet, liegt auf der Hand. Schusswaffen machen Töten viel zu leicht.“