Human Rights Watch sieht kurz vor Beginn der Olympischen Spiele kaum Verbesserungen der Menschenrechtssituation in Russland

Moskau. Ende des vergangenen Jahres kamen in Russland prominente Häftlinge wie Michail Chodorkowski und zwei Frauen aus der Punk-Band Pussy Riot frei. Eine Amnestie ermöglichte ebenso, den Fall gegen 30 Greenpeace-Aktivisten einzustellen, die gegen Ölbohrungen in der Arktis protestiert hatten. Auch wenn der russische Präsident Wladimir Putin wie am vergangenen Sonntag erneut erklärte, die Amnestie habe nichts mit den Winterspielen in Sotschi zu tun – seine Barmherzigkeit wird in der Welt als ein Versuch wahrgenommen, das Image Russlands vor dem Großereignis zu verbessern, um so die Kritik an der Situation der Menschenrechte zu entschärfen.

Allerdings ändern mehrere Freilassungen prominenter Häftlinge nichts daran. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat in ihrem Jahresbericht, der am Dienstag weltweit vorgestellt wurde, erneut die Lage in Russland kritisiert. „Das Jahr 2013 stand im Zeichen der Offensive gegen die Bürgergesellschaft und Kreml-Kritiker, die von russischen Machthabern ein Jahr davor angefangen wurde“, steht in dem Teil des Berichts, der Russland gewidmet ist. „Die Amnestie und Begnadigung bedeuten nicht, dass eine Liberalisierung, ein Tauwetter beginnt“, sagte Tatjana Lokschina, Büroleiterin von Human Rights Watch in Russland. Dass die bekanntesten politischen Häftlinge befreit wurden, sei eine erfreuliche Nachricht. „Das ist sehr wichtig für sie, für uns alle, für ihre Familien“, sagte Lokschina. Es gebe aber noch viele weniger prominente Häftlinge, die noch in den Gefängnissen seien.

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wurden zudem laut Human Rights Watch in Russland im vergangenen Jahr an ihrer Arbeit gehindert. Im Jahr 2012 wurde ein Gesetz verabschiedet, das NGOs verpflichtet, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen, wenn sie Geld aus dem Ausland bekommen und „politische Tätigkeit“ betreiben. „Unabhängige Organisationen werden faktisch als Spione und Verräter angeschwärzt“, heißt es im Bericht. Im Frühjahr 2013 wurden Hunderte NGOs landesweit überprüft, mit dem Ziel, die Organisationen einzuschüchtern und sie dazu zu bringen, sich als „ausländische Agenten“ zu registrieren, kritisiert Human Rights Watch.

Die Nichtregierungsorganisation Golos, die sich mit der Wahlbeobachtung beschäftigt, musste ihre Tätigkeit vorerst einstellen und sich als Bewegung umregistrieren. Dutzende NGOs und ihre Direktoren wurden vor Gericht gestellt, weitere Dutzende bekamen Abmahnungen. In der ausführlichen Liste von betroffenen NGOs tauchen vor allem Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen auf, sowie NGOs, die sich mit den Rechten von Homosexuellen beschäftigen.

Ein weiterer Kritikpunkt von Human Rights Watch betrifft das Gesetz vom Juni vergangenen Jahres, das „Propaganda von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen“ verbietet. Die Adoption russischer Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren aus dem Ausland sowie von alleinstehenden Personen aus den Ländern, in denen die Homo-Ehe erlaubt ist, wurde ebenfalls verboten. Im Herbst schlugen mehrere russische Parlamentarier vor, dass Homosexualität von Eltern ein Grund dafür sein könnte, ihnen die Elternrechte zu entziehen. Das entsprechende Gesetz wurde allerdings nicht verabschiedet. Human Rights Watch kritisiert die „homophobe Rhetorik, auch von Amtsträgern“ und die Eskalation von Gewalt.

Russische Medien berichteten über drei Mordfälle, die angeblich mit der Homosexualität der Opfer zu tun hatten. Nationalistische Gruppen in mehreren Regionen Russlands verprügelten und erniedrigten vor laufender Kamera schwule Männer und Jugendliche und stellten die Videos dann ins Internet. „Erschrocken durch die Massenproteste vor zwei Jahren versucht der Kreml, die gesellschaftliche Unzufriedenheit auf speziell ernannte Feinde umleiten“, sagte Lokschina. In Russland werde eine Dichotomie zwischen dem „Unseren“, „Russischen“, „Traditionellen“ und den „Fremden“ aufgebaut. Als „Fremde“ würden vor allem unabhängige Aktivisten, Homosexuelle und Migranten wahrgenommen.

Im Nordkaukasus wurden Menschenrechte laut Human Rights Watch weiter massiv verletzt. In dieser Region bekämpfen russische Sicherheitskräfte seit Jahren islamistische Terroristen. Dabei würden Menschen entführt und gefoltert. Gewalt werde nicht nur gegen mutmaßliche Terroristen, sondern auch gegen ihre Familien angewandt. In der ersten Jahreshälfte 2013 seien in der nordkaukasischen Republik Dagestan acht Menschen von den Sicherheitskräften entführt worden, schreibt Human Rights Watch unter Berufung auf die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, die vor Ort vertreten ist. Fünf davon werden immer noch vermisst. In Tschetschenien sei im gleichen Zeitraum ein Mensch entführt worden. Im Juli 2013 wurde in Dagestan der Journalist Achmednabi Achmednabijew ermordet. Der stellvertretende Chefredakteur der unabhängigen Zeitung „Nowoje Delo“ hatte viel über Menschenrechtsverletzungen und die Willkür der Sicherheitskräfte berichtet. Auch die Vorbereitung auf die Winterspiele in Sotschi steht in der Kritik von Human Rights Watch. Umweltschützer, Aktivisten vor Ort und kritische Journalisten seien eingeschüchtert worden. Seit der Veröffentlichung des Berichts ist der Druck nun gewachsen. Ende Dezember wurde der Umweltaktivist Ewgeni Witischko für ein Protest-Graffiti auf einem Zaun zu drei Jahren Haft verurteilt. Er ist gerade dabei, den Gerichtsbeschluss anzufechten. Im Dezember und Januar wurden mehrere Aktivisten vorübergehend festgenommen.

Die Terrorangst im Olympiaort Sotschi sitzt rund zwei Wochen vor Eröffnung des Weltsportereignisses tief. Heerscharen von Sicherheitskräften sind in Stellung in dem Schwarzmeerkurort und in den Gebirgsregionen. Nicht erst seit den Drohungen des islamistischen Terroristenführers Doku Umarow, Olympia mit „allen Mitteln, die Allah erlaubt“, zu verhindern, herrscht in dem russischen Kurort Alarmstimmung. Nach den beiden Terroranschlägen in Wolgograd Ende Dezember mit mehr als 30 Toten bekannten sich nun Selbstmordattentäter in einem Video zu den Bluttaten. Und sie bestätigten, dass Sotschi Terror-Ziel sei. Dabei beklagen Menschenrechtler, dass die Geheimdienste wegen der Terrorgefahr im Grunde unbegrenzte Vollmachten hätten.

Vor allem Kritiker der Spiele und Regierungsgegner bekommen den Druck bisher zu spüren. Die Olympia-Anlagen grenzen direkt an das von Georgien abtrünnige Konfliktgebiet Abchasien, das Russland als unabhängigen Staat anerkennt. Georgien hatte die Kontrolle über die Region 2008 in einem Krieg gegen Russland komplett verloren. Das Land kritisiert nun, dass die Russen ihre Grenze samt einer Sicherheitszone mit entsprechenden Kontrolleinrichtungen bis ins Innere Abchasiens verlegt haben.