Der türkische Premierminister kündigt einen Kampf gegen „Staat im Staate“ an

Istanbul. Die Türkei dürfte derzeit die überqualifizierteste Orts- und Verkehrspolizei der Welt haben, bemannt mit Spezialisten für Finanzkriminalität, Schmuggel, Spionageabwehr und organisiertes Verbrechen: In der Nacht zu Dienstag wurden erneut 350 Polizisten allein aus Ankara in die Provinz oder zur Verkehrspolizei strafversetzt. Einen Tag zuvor hatte es 78 Polizeioffiziere aus Istanbul und einer Reihe von Provinzmetropolen getroffen.

Insgesamt sind seit dem Ausbruch eines Korruptionsskandals am 17. Dezember, der die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan schwer erschüttert, mehr als 600 Polizeioffiziere strafversetzt worden, darunter alle, die an den Ermittlungen gegen führende Politiker und deren Geschäftspartner beteiligt gewesen waren. Die gesamte Polizeiführung in Istanbul wurde ausgetauscht, ebenso die Chefs und führenden Offiziere der Abteilungen für Finanzkriminalität, Schmuggel und organisiertes Verbrechen.

Auch die Ministerämter für Inneres und Justiz waren im Dezember – nach dem Rücktritt der selbst von den Korruptionsvorwürfen betroffenen Vorgänger – neu besetzt worden. Die neuen Minister trugen sofort dazu bei, weitere Ermittlungen zu stoppen, insbesondere durch Neubesetzungen bei der Polizei. Das hatte zur Folge, dass die neue Polizeiführung sich weigerte, Haftbefehle der Staatsanwaltschaft gegen weitere Korruptionsverdächtigte auszuführen.

Ministerpräsident Erdogan hatte die Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung als internationale Verschwörung mit Unterstützung eines „Staates im Staate“ bezeichnet, womit er nach allgemeiner Auffassung von Experten die Netzwerke des einflussreichen, in den USA lebenden islamisch-konservativen Predigers Fethullah Gülen meinte. Er hatte angekündigt, deren „Hände brechen“ zu wollen. In diesem Sinne werten die meisten Beobachter die Säuberungswelle als vornehmlich gegen die Gülen-Netzwerke gerichtet. Nur, woher weiß die Regierung, wer mit Gülen sympathisiert? Offenbar gibt es „Profile“ des Geheimdienstes über öffentliche Bedienstete in allen Bereichen des Staatsapparats – und über Journalisten, Bürgerrechtler und andere Einflussträger.

Im vergangenen Jahr war bekannt geworden, dass Erdogan schon im Jahr 2004 eine Anweisung unterzeichnet hatte, gegen die Gülen-Bewegung vorzugehen. Ihre Anhänger in Schulen und im Staatsapparat sollten beobachtet und gegebenenfalls entfernt werden. Die Regierung sagte im vergangenen Jahr, dass der Plan nicht umgesetzt worden war. Offenbar wurde aber genügend Vorarbeit geleistet, um nun rasch mutmaßliche Gülen-Sympathisanten zu entfernen.

Gibt es überhaupt diesen gülenistischen „Staat im Staate“? Zumindest zwei investigative Autoren, Ahmet Sik und Nedim Sener, hatten das in Büchern über Gülens verdeckten Einfluss im Sicherheitsapparat behauptet – und waren dafür im Gefängnis gelandet. Das schien ihnen auf dramatische Weise recht zu geben.