Pussy-Riot-Musikerinnen Aljochina und Tolokonnikowa rufen zum Widerstand gegen das Regime auf

Moskau. Zwischen dem Gefängniskrankenhaus Nummer eins im ostsibirischen Krasnojarsk und dem Straflager Nummer zwei in Nischni Nowgorod liegen 3000 Kilometer und vier Stunden Zeitunterschied. In Krasnojarsk sind es minus 20 Grad, in Nischni Nowgorod ein Grad über null. An den beiden Orten warten am Montagmorgen Dutzende Kamerateams auf zwei prominente Gefangene: Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina von der Punk-Band Pussy Riot fallen unter Putins Amnestie und können jeden Moment freikommen.

Um 5.20 Uhr Ortszeit wird Maria Aljochina wie jeden Tag mit den anderen Frauen in ihrem Lager geweckt, sie gehen frühstücken. Sie weiß, dass sie freikommt, aber nicht genau, wann es so weit ist. Um 6.04 Uhr Ortszeit in Nischni Nowgorod klingelt das Telefon bei Pjotr Saikin, dem Anwalt von Aljochina. Jemand vom Straflager ist dran. Saikin soll ins Lager kommen. Um 7.50 Uhr ist er da. Ein Dienstwagen der Staatsanwaltschaft steht im Hof, und Saikin ist fast sicher, dass Maria Aljochina heute freikommt. Sie treffen sich kurz, dann wird Aljochina mit ihren Sachen in einen schwarzen Wolga gesteckt und zum Bahnhof gefahren.

Doch sie will in Nischni Nowgorod bleiben und mit Menschenrechtlern sprechen. Nach zwei Jahren Haft will sie sich jetzt für die Rechte von Gefangenen einsetzen. Sie trägt noch die grüne Gefängnisjacke, als sie den Raum der Organisation Komitee gegen Folter betritt. An der Stelle der Jacke, wo sonst eine Nummer prangt, hat sie ein selbst gemachtes Schild aufgeklebt: „Mascha. Pussy Riot“.

Als Aljochina ihr Treffen mit den Menschenrechtlern beendet, ist es in Krasnojarsk bereits kurz vor 18 Uhr. Pjotr Wersilow, der Mann von Nadeschda Tolokonnikowa, wartet seit sieben Uhr morgens mit Journalisten vor dem Krankenhaus. Seine Frau erholt sich hier nach einem Hungerstreik und dem langen Transport aus Mordwinien. Eine Agentur meldet, dass Tolokonnikowa bereits alle Dokumente für die Freilassung bekommen hat, aber sie kommt immer noch nicht frei. Der Arbeitstag der Behörden endet bald, es wird dunkel und immer kälter.

Um kurz nach 18 Uhr öffnet ein Polizist endlich die Tür, und Nadeschda Tolokonnikowa tritt heraus. Sie wirkt selbstbewusst wie immer. Sie trägt eine schwarze, warme Jacke, einen schwarzen Rock und ein rotes Karohemd. „Die Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit ist in Russland, einem autoritären Staat, sehr dünn“, sagt sie ruhig. „Deshalb kann ich nicht sagen, dass ich jetzt etwas Unglaubliches empfinde.“

Die Haft habe sie nicht gebrochen. „Jetzt bin ich entschlossener denn je.“ Wenn jemand sie einschüchtern wollte, habe er das Gegenteil erreicht. „Womit kann man jemanden einschüchtern, der schon zwei Jahre im Gefängnis verbracht hat? Ich habe keine Angst um mein Leben. Ein Mensch hat sein Leben, um zu handeln.“

Tolokonnikowa sagt, sie und Aljochina wollten eine Menschenrechtsorganisation gründen. „Russland ist nach dem Vorbild eines Straflagers konstruiert. Deshalb ist es so wichtig, Straflager zu ändern, um Russland zu ändern.“ Im September hatte Tolokonnikowa einen offenen Brief verfasst, in dem sie die Bedingungen in ihrem Straflager in Mordwinien beschrieb. Gewalt, Ausbeutung, schlechtes Essen und mangelnde Hygiene sind dort wie in anderen Gefängnissen Alltag. Frauen würden eingeschüchtert, schrieb sie.

Tolokonnikowa und Aljochina wurden Anfang März 2012, kurz vor den Präsidentenwahlen in Russland, festgenommen. Später nahm die Polizei das dritte Bandmitglied, Jekaterina Samuzewitsch, fest. Ihre feministische Punk-Gruppe Pussy Riot sorgte für Diskussionen im Land. Einige hielten sie für mutig, andere für geschmacklos, aber niemand für gefährlich oder strafbar. In ihren Texten ging es um Feminismus, Revolution und den russischen Präsidenten Wladimir Putin. „Putin macht sich in die Hose“, sangen sie etwa auf dem Roten Platz. Ihr letzter Auftritt fand am 21. Februar in der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau statt.

Durch ihren Auftritt hätten sie die Gefühle der Gläubigen verletzt, hieß es

„Gottesmutter, erlöse uns von Putin“, lautete damals ihr Punk-Gebet. Es dauerte weniger als eine Minute, bis sie festgenommen wurden. Ein Video des Auftritts veröffentlichten sie im Internet. Danach folgten die Festnahme und ein juristisch absurder Prozess, der von Medien aus aller Welt begleitet wurde. Angeblich sollten sie die Gefühle der Gläubigen verletzt haben. Das Gericht verhängte eine zweijährige Haftstrafe. Samuzewitsch wurde später auf Bewährung freigelassen. Etwa zur gleichen Zeit wurden alle Videos von Pussy Riot in Russland verboten.

Nun profitieren Tolokonnikowa und Aljochina von der Amnestie, die aus Anlass des 20. Jahrestages der russischen Verfassung verabschiedet wurde. Ohne Amnestie würden sie bis Anfang März in Haft bleiben, auch während der Winterspiele in Sotschi im Februar 2014 – dann also, wenn die Welt auf Russland blickt.

Obwohl beide Frauen früher als geplant freikommen, sehen sie die Amnestie kritisch. „Das ist kein humanitärer Akt, sondern ein PR-Trick“, sagte Aljochina. „Wenn ich eine Möglichkeit hätte, diese Gnade nicht anzunehmen, hätte ich das getan und auf die Amnestie verzichtet.“ Die meisten Frauen, die minderjährige Kinder hätten oder schwanger seien, kämen nicht frei. Tolokonnikowa nannte die Amnestie „Almosen“. Sie rief europäische Länder dazu auf, trotz Amnestie die Olympischen Spiele in Sotschi zu boykottieren. „Ich rufe dazu auf, sich nicht von Öl und Gas kaufen zu lassen. Ich rufe dazu auf, die humanitären Normen, Traditionen und Regeln anzuwenden, für die die europäischen Länder stehen. Das wäre wirklich ehrlich.“