Lage in ukrainischer Hauptstadt verschärft sich. Wirbel um angebliche Erstürmung von Timoschenko-Parteizentrale. Präsident verspricht runden Tisch
Kiew. Verwirrende Szenen in der Ukraine: Wo Stillstand herrschte, wo die Geschichte in Form eines Lenin-Denkmals versteinert war, ist Bewegung. Wo Bewegung sein müsste, im Regierungssitz und auf der Straße davor, herrscht Stillstand. Dort schlagen Demonstranten mit Hämmern auf den roten Granit-Lenin. Hier haben sie die Zufahrt restlos blockiert und stehen völlig entspannt den Polizeikräften gegenüber. Nichts geht mehr.
Dann hat sich der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch am Montag überraschend zu einem Treffen mit seinen drei Amtsvorgängern bereit erklärt. Dabei soll es um Wege zur Beilegung „der aktuellen Krise“ gehen. Janukowitsch teilte mit, der „nationale Runde Tisch“ solle am Dienstag zusammenkommen. Die drei Ex-Präsidenten hatten in der vergangenen Woche ihre Solidarität mit den Demonstranten erklärt und Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition gefordert. Janukowitsch habe „die Initiative“ seiner Amtsvorgänger akzeptiert, erklärte das Präsidialamt nun.
Gleichzeitig spitzt sich die Lage in der Hauptstadt Kiew weiter zu. Hunderte Polizisten mit Helmen, Schutzanzügen und Schilden bauten sich am Unabhängigkeitsplatz (Majdan) und dem Kreschtschatik-Boulevard auf. Die russische Agentur Itar-Tass meldete, insgesamt seien 6000 Sicherheitskräfte im Einsatz. Die Polizei kreist mehrere Lager der Demonstranten ein und beginnt, die Barrikaden abzubauen. Damit wächst die Sorge, dass die Behörden die überwiegend friedlichen Proteste mit Gewalt niederschlagen könnten.
Für Aufsehen sorgen am Abend Berichte, wonach maskierte Sondereinheiten die Zentrale der Vaterlandspartei der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko gestürmt haben sollen. Polizei und Geheimdienst wiesen dies zurück.
Vitali Klitschko, Chef der Oppositionspartei Udar (Schlag), kritisierte die Sicherheitskräfte scharf. Der pro-russische Präsident Janukowitsch wolle die mehreren Tausend Regierungsgegner einschüchtern. „Aber wir bleiben. Ich rufe alle Regierungsgegner auf, zum Majdan zu kommen“, sagte Klitschko. Auch den Sturz des Lenin-Denkmals kritisierte der Boxweltmeister. Er und weitere Politiker stellten klar, der Sturz sei im Stab der vereinigten Opposition weder beschlossen noch überhaupt besprochen worden. Das wirkt glaubwürdig: Klitschko hatte schon vor Monaten dazu aufgerufen, die Denkmäler im Land in Ruhe zu lassen.
Nur die nationalistische Partei Swoboda (Freiheit) freute sich zunächst offen über den Denkmalsturz. Vor allem ihre Anhänger sollen verantwortlich gewesen sein. Am Abend danach prangten auf dem leeren Sockel die Fahnen der EU, der Ukraine und der nationalistischen „Ukrainischen Aufständischen Armee“ aus dem Zweiten Weltkrieg. Dabei hing ein handgemaltes Plakat, gerichtet an den Präsidenten: „Janukowitsch, du bist der Nächste.“ Der Politologe Rostislaw Pawlenko, Leiter der Strategieabteilung in Klitschkos Partei Udar, hält die Moral der Sicherheitskräfte für schlecht. Sie verdienten schlecht, schliefen in ihren Bussen und würden frieren, sagte er. Pawlenko sieht auch Schwierigkeiten für die Behörden, den Ausnahmezustand zu verhängen. Laut Verfassung müsse eine solche Entscheidung binnen 48 Stunden vom Parlament abgesegnet werden. Aber die Opposition könne die Parlamentssitzung lahmlegen. Der Ausnahmezustand wäre „der Megafehler der Machthaber“. Dann würden „die drei Millionen Kiewer alle auf den Beinen sein“.
Die 4000 Sonderpolizisten der Einheit Berkut (Steinadler), die paar Tausend Mann von den „Inneren Truppen“ des Innenministeriums würden dann nicht ausreichen. „Vor allem die Inneren Truppen sind nicht zuverlässig und auf Prügeleien nicht vorbereitet.“ In der Orangenen Revolution von 2004 hätten die Behörden in der Tat motivierte Leute aus der Ostukraine nach Kiew gebracht. „Damals lief die Front so: Der Osten gegen den Westen des Landes. Jetzt verläuft sie anders: hier Volk, da Machthaber.“ Aber es gebe ein großes Risiko: Moskau könnte Janukowitsch zu einer gewaltsamen Lösung drängen, befürchtet Pawlenko: „Wladimir Putin denkt, die Ukrainer seien wie die Russen, denen könne man alles zumuten. Aber er hat sich damit schon 2004 verrechnet.“ Am Freitag hatte ein Treffen Putins mit Janukowitsch Befürchtungen der Opposition genährt, dieser wolle die Ukraine in die von Moskau dominierte Zoll-Union führen. Janukowitsch hatte im November überraschend die Unterzeichnung eines über mehrere Jahre ausgehandelten Freihandelsabkommen mit der EU abgelehnt.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) ruft die Regierung der Ukraine auf, keine Gewalt einzusetzen. „Es wäre fatal, wenn die friedlichen Proteste mit Druck, Drohungen oder Gewalt, von welcher Seite auch immer, untergraben würden.“ Und während sich der Westen – allen voran die EU und die USA – um eine Lösung in der Krise bemühen, Emissäre nach Kiew schicken, ätzen russische Staatsmedien gegen diesen Druck auf die Ex-Sowjetrepublik. Von einem Kampf zwischen dem Westen – der EU – und dem Osten – Russland – ist auch an höchster Stelle in Moskau die Rede.
Der als „antiwestlicher Scharfmacher“ verschriene russische Staatsreporter Dmitri Kisseljow will in Kiew sogar eine große Verschwörung zur „Homosexualisierung der Ukraine“ ausgemacht haben. Sein Argument: Bundesaußenminister Westerwelle sei dort mit Klitschko marschiert. Als Janukowitsch sich entschied, den Assoziierungsvertrag mit der EU nicht zu unterzeichnen, jubelten orthodoxe Christen in der Ukraine und in Russland, dass damit auch „westliche Verderbtheit“ abgewendet sei. Doch diejenigen, die in der Ukraine auf die Straße gehen, sehnen sich nach einem anderen Leben mit besseren sozialen Verhältnissen, mit weniger Korruption, mit mehr Rechtsstaatlichkeit und Chancengleichheit. Das zerrüttete Land stehe an einem Wendepunkt, ist vielfach zu hören in Kiew. „Es ist die beste Politik für Russland, sich da nun rauszuhalten“, mahnt der Politologe Dmitri Trenin vom Moskauer Carnegie-Zentrum.