Demonstranten um Vitali Klitschko erhöhen Druck für Machtwechsel in der Ukraine. Wieder Massenproteste in der Hauptstadt Kiew

Kiew. Der Kampfgeist der Demonstranten von Kiew ist auch nach mehr als zwei Wochen täglicher Proteste ungebrochen. An diesem bitterkalten Dezembertag füllen wieder Hunderttausende den Unabhängigkeitsplatz (Maidan) im Herzen der ukrainischen Hauptstadt. Sie wollen die proeuropäische Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko mit einem friedlichen „Marsch der Million“ unterstützen. Jugendliche skandieren „Revolution, Revolution“ und drängen mit Nationalflaggen in der Hand zur Bühne.

Der Zorn der ersten Protesttage in der früheren Sowjetrepublik scheint zunächst ein wenig verflogen. Doch dann werfen maskierte Unbekannte am Rande der Demonstration dicke Stahlseile um eine Granitstatue von Revolutionsführer Lenin und stürzen das rund 3,50 Meter hohe Denkmal. Es ist auch ein Protest gegen die Annäherung der ukrainischen Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch an Russland.

Schreie wie „Weg mit dem Henker des ukrainischen Volkes“ sind rund um die gestürzte Statue zu hören. Wie Trophäen tragen Anhänger der rechtspopulistischen Partei Swoboda (Freiheit) Splitter des bekanntesten Lenin-Denkmals der Hauptstadt zum Maidan.

Unter den Zuhörern auf dem Unabhängigkeitsplatz ist auch die 65-jährige Ljudmila. „Ich gehe nicht weg, bis Präsident Viktor Janukowitsch abtritt“, sagt die Rentnerin. Seit Beginn der Proteste gegen die prorussische Führung kommt sie fast täglich hierhin. Sie ist empört, dass Janukowitsch Ende November die Annäherung an die Europäische Union jäh gestoppt hat. „Ich bleibe so lange, bis die Regierung zurücktritt, notfalls bis Mai“, sagt auch der 53-jährige Igor aus Wolhynien, einer Region im Nordwesten des Landes.

In der Menschenmenge auf dem Unabhängigkeitsplatz bricht Jubel aus. Die Opposition gibt Präsident Janukowitsch 48 Stunden zur Entlassung der Regierung. Nach einem brutalen Polizeieinsatz gegen Demonstranten vor einer Woche steht auch Regierungschef Nikolai Asarow in der Kritik. Doch ein Misstrauensvotum gegen den Vertrauten von Janukowitsch ist vor wenigen Tagen im Parlament gescheitert. Mit dem „Marsch der Million“ hofft die Opposition nun auf neuen Rückenwind.

„Ich wende mich an die gesamte Ukraine – im Osten und im Westen“, ruft Klitschko von der Bühne und schwingt seine Fäuste. „Die gesamte Ukraine muss aufstehen und dieser Regierung in allen Städten den Streik erklären. Ja?“ „Ja“, tönt es aus der Menge zurück. Wieder werden Rufe laut nach einem Generalstreik, der die Regierung zum Einlenken zwingen soll. Aber sogar in Klitschkos Partei Udar (Schlag) räumen Abgeordnete ein, dass das kaum zu organisieren sei. Denn der zweitgrößte Flächenstaat Europas ist tief gespalten in Osten und Süden, die als russlandnahe gelten, und einen proeuropäischen Westen. Hier demonstrierten am Sonntag ebenfalls rund 20.000 Menschen in der Großstadt Lwiw für Neuwahlen.

In Kiew fällt der Schnee nun dichter. Oppositionspolitiker Arseni Jazenjuk ruft zur Blockade des Regierungsviertels auf. „Von heute an belagern wir das gesamte Viertel“, kündigt er an. Der Fraktionschef der Partei der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko wirkt müde.

Timoschenko warnt die Opposition aus dem Gefängnis heraus vor Kompromissen mit der Führung des Landes. „Gebt nicht auf, und setzt euch nicht mit denen an einen Tisch“, fordert die 53-Jährige in einer Erklärung, die ihre Tochter Jewgenija bei der Kundgebung verliest. Ein Dialog sei nur möglich, wenn Janukowitsch sofortigen Neuwahlen zustimme. „Janukowitsch hat seine Legitimität in dem Moment verloren, als er das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieb“, so Timoschenko, die eine umstrittene siebenjährige Haft absitzt.

Der frühere Innenminister Juri Luzenko sagt, Janukowitsch habe mit der gestoppten EU-Annäherung „eine rote Linie“ überschritten. „Sie haben unseren Kindern die europäische Perspektive gestohlen. Sie und Ihre Bande müssen gehen“, ruft Luzenko von einer Bühne auf dem Maidan. Und Popsängerin Ruslana ruft die Demonstranten zum Durchhalten auf. „Der Maidan ist heute nicht nur ein Platz der Unabhängigkeit, sondern auch ein Platz der Hoffnung.“

Auf ihrem Marsch ins politische Machtzentrum kommen die Regierungsgegner allerdings nicht weit. Nachdem es hier bei Protesten vor einer Woche zu Ausschreitungen gekommen war, sind die Ministerien durch Polizeibusse und Einsatzkräfte doppelt abgesichert. Hinter den Absperrungen steht ein dichtes Spalier von Uniformierten. Gegenüber die Reihen der Opposition. Gespannte Ruhe herrscht auf einmal auf dieser verschneiten Straße. Plötzlich springen junge Frauen hervor und verteilen Blumen an die Polizisten, um die Spannung zu brechen. Die Proteste gehen weiter, sagt Klitschko. „Wir werden friedlich siegen.“

Klitschko hatte die Regierungsgegner zu einer regen Teilnahme aufgerufen. „Mehr als eine Million Menschen müssen Präsident Viktor Janukowitsch klarmachen, dass er unsere Bedingungen erfüllen muss“, sagt er. Dazu gehöre auch Timoschenkos Freilassung. „Wer nicht in einem Polizeistaat leben will, sondern in einem modernen Land, sollte nicht gleichgültig bleiben.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Gruppe der konservativen Parteien in der EU (EVP) wollen Klitschko dem Magazin „Der Spiegel“ zufolge durch gemeinsame Auftritte stärken. Geplant sei, den Boxer zum Oppositionsführer und Gegenkandidaten von Janukowitsch aufzubauen. Demnach ist etwa geplant, dass Klitschko beim nächsten Treffen der EVP-Staats- und Regierungschefs in Brüssel Mitte Dezember auftritt. Der Europaabgeordnete Elmar Brok von der EVP hatte die ukrainische Führung erst am Vortag bei einem Auftritt in Kiew zu einem europäischen Kurs aufgefordert. „Herr Präsident Viktor Janukowitsch, hören Sie auf Ihr Volk!“, hatte Brok appelliert. Bisher ohne erkennbaren Erfolg.