Mitte Dezember wird Ankara ein Rücknahmeabkommen unterzeichnen – im Gegenzug soll die Visumspflicht für Reisen nach Europa fallen

Budapest. Schon lange lag nicht mehr so viel Aufbruchsstimmung in der Luft zwischen Ankara und Brüssel. Dort wurden im Beisein des türkischen EU-Ministers Egemen Bagis die Verhandlungen zum neu geöffneten EU-Beitrittskapitel „Regionalpolitik“ begonnen. „Wendepunkt“ nannte dies Bagis – und sprach von „positiven Folgewirkungen“. Bislang waren von den 35 Beitrittskapiteln erst 14 geöffnet und nur eines davon provisorisch abgeschlossen worden. Im selben Zeitraum beantragte und erhielt Kroatien die EU-Mitgliedschaft.

Zugleich wurde bekannt, dass am 16. Dezember die Türkei ein Rücknahmeabkommen mit der EU unterzeichnen wird. Darin wird Ankara sich verpflichten, Flüchtlinge, die über die türkische Grenze in die EU gelangen, zurückzunehmen. Das sind derzeit sehr viele Menschen. So viele, dass sowohl Bulgarien als auch Griechenland neue Grenzanlagen zur Flüchtlingsabwehr errichten und auch die EU grenzpolizeiliche Unterstützung leistet.

Allein in Griechenland sind in den letzten zehn Jahren mehrere Hunderttausend Flüchtlinge illegal über die Türkei eingereist. In Bulgarien sind es derzeit rund 200 illegale Flüchtlinge täglich, die über die grüne Grenze kommen. Die meisten von ihnen wollen – nach eigenem Bekunden – nach Deutschland.

Die meisten von ihnen kommen derzeit aus Syrien, als Folge des dortigen Krieges. Hierbei muss erwähnt werden, dass die Türkei bislang auf eigene Kosten mehr als 600.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen hat – weit mehr als irgendein europäisches Land.

Aber nicht nur aus Syrien kommen die Migranten. Die Türkei hatte in den letzten Jahren die Visumspflicht für eine ganze Reihe von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens aufgehoben und wurde dadurch zur bevorzugten Route für illegale Migranten, die nach Europa wollen.

Im Gegenzug für die Unterzeichnung des Rücknahmeabkommens erklärt sich die EU bereit, Verhandlungen über eine Aufhebung der Visumspflicht für türkische Staatsbürger zu beginnen. Mit einem festen Zeitrahmen und gegenseitiger Konditionalität: Spätestens in dreieinhalb Jahren sollen die Verhandlungen abgeschlossen sein. Die Türkei kann ihrerseits das Rücknahmeabkommen aussetzen, wenn die EU während der Verhandlungen oder später „ihren Verpflichtungen nicht nachkommt“.

Einen Strich durch die Rechnung machen könnte das Europaparlament. Derzeit gibt es dort eine konservative Mehrheit. Bei der nächsten Europawahl könnten auch nationalistische und EU-skeptische Protestparteien deutlich gestärkt hervorgehen.

So warnte der sicherheitspolitische Sprecher der Österreichischen Volkspartei im EU-Parlament, Hubert Pirker, dass am Ende das Europaparlament über eine Visumerleichterung für die Türkei entscheiden müsse. Er stellte dabei aus Sicht seiner Partei die Bedingung, dass bis dahin ein elektronisches „Smart Border“-System eingeführt werden müsse. Nur wenn die Daten aller Einreisenden elektronisch gespeichert würden – im Gegensatz zur jetzigen Stempel-Praxis – sei eine Einigung mit Ankara in der Visumfrage denkbar.

In vielen europäischen Ländern gibt es große Ängste in der Bevölkerung vor einer massiven Welle einreisender Türken, die dann eventuell nicht mehr zurückkehren. Das muss aber nicht so sein, wie man am Beispiel Ungarn sehen kann.

Länder in Südosteuropa hoffen auf gute Geschäfte mit türkischen Touristen

Der Tourismus in der wirtschaftlich boomenden Türkei hat sich in jüngster Zeit verdoppelt, die beiden Länder nähern sich mit großen Schritten an. Kulturdenkmäler aus der osmanischen Zeit in Ungarn werden auf Kosten des türkischen Staates renoviert, es gibt ehrgeizige Pläne, für die immer zahlreicheren und immer wohlhabenderen türkischen Besucher Luxushotels zu bauen. Man denkt an eine Vervielfachung der Zahl von 30.000 türkischen Touristen (2012). Es dürften schon in diesem Jahr bedeutend mehr gewesen sein.

Ähnlich profitabel könnte türkischer Tourismus für andere kleine südosteuropäische Länder werden, die früher zum Osmanischen Reich gehörten. Aber auch große Volkswirtschaften könnten profitieren, schon dadurch dass türkische Geschäftsleute leichter einreisen könnten. Noch unklar ist, ob die Türkei sich auch verpflichtet, straffällig gewordene türkische Staatsbürger zurückzunehmen.

In europäischen Ländern gibt es nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu vom November derer mehrere Tausend – allein in Deutschland sind es demnach gut 3600, weltweit mehr als 6000. Diese Häftlinge verursachen den jeweiligen Staaten teilweise erhebliche Kosten.

Insgesamt deuten die jüngsten Entwicklungen neuen Schwung an in der Annäherung zwischen der EU und der Türkei, nachdem es seit 2009 zu einer regelrechten Eiszeit in den Beziehungen gekommen war. Am Donnerstag und Freitag tagt in Ankara erstmals ein gemischter europäisch-türkischer Parlamentsausschuss, Themen waren europäische Grundwerte, Pressefreiheit und die türkische Demokratisierungspolitik. Zumindest ein Teilnehmer auf EU-Seite sagte der „Welt“ jedoch auf Anfrage, man erwarte dabei wenig mehr als Augenwischerei und keinen echten Fortschrittswillen auf türkischer Seite.

Ein Zeichen für eine Rückbesinnung in Ankara auf den Wert guter Beziehungen mit der EU ist ein geplanter Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Brüssel im Januar. Er war seit drei Jahren nicht mehr dort. Grund der türkischen Abkehr von Europa in den letzten Jahren war nach Meinung westlicher Beobachter deren Bestreben, im Nahen Osten eine eigene Einflusssphäre aufzubauen. Der Arabische Frühling, der syrische Krieg und der ägyptische Militärcoup haben das derzeitige Potenzial dieser Region für die Türkei jedoch stark reduziert. Insofern bietet eine „Rückkehr nach Europa“ die beste Gewähr, den türkischen Einfluss in der Welt zu maximieren.