Am Rande der Massen-Proteste gegen Präsident Viktor Janukowitsch eskaliert die Gewalt

Kiew. „Revolution!“, rufen weit mehr als 100.000 Menschen aus vollem Hals in Kiew. Und: „Die Bande soll ins Gefängnis!“ Viele Ukrainer sind mit ihrer Geduld am Ende. Wut auf Präsident Viktor Janukowitsch und auf die Regierung treibt sie auf den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Hauptstadt. Aber auch die Wut über schlechte Lebensumstände, über hohe Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit.

Nach dem Scheitern der Annäherung an die Europäische Union sind Zornige und Enttäuschte aus dem ganzen Land nach Kiew gekommen. Der letzte Tropfen, der für viele das Fass zum Überlaufen gebracht hat: ein brutaler Polizeieinsatz in der Nacht zum Sonnabend gegen junge Menschen, die friedlich auf dem Maidan für einen Westkurs demonstrierten.

Nach Kritik aus Brüssel und Washington rügte schließlich auch Janukowitsch die „zutiefst empörende“ Polizeigewalt. Er wies die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft an, in einer „sofortigen und objektiven Untersuchung“ die Verantwortlichen für die Eskalation zu ermitteln, damit diese bestraft werden könnten. Der Polizei-Chef von Kiew reichte am Sonntag seinen Rücktritt ein.

Am Sonntag dann ist der Platz im Herzen der Millionenstadt einmal mehr das Symbol gewaltiger Proteste – neun Jahre nach der erfolgreichen prowestlichen Orangen Revolution 2004 um die derzeit inhaftierte Julia Timoschenko. Angeführt vom Oppositionspolitiker und Boxweltmeister Vitali Klitschko zieht der riesige Demonstrationszug ins Zentrum. Voran wird eine überdimensionale ukrainische Flagge getragen, die Opposition ruft zu einem landesweiten Generalstreik auf. Eine dichte Polizeikette schützt das Lenin-Denkmal kurz vor der Flaniermeile Kreschtschatik. Die Polizisten müssen sich Schmähungen anhören: „Schande, Schande.“ Gegenstände fliegen in ihre Richtung, aber schnell stellen sich Demonstranten dazwischen. Doch dann, nahe der Präsidialkanzlei, eskaliert die Lage.

Spezialeinheiten versuchen die Protestierer, die mithilfe eines Baggers die Absperrungen überwinden wollten, mit zahlreichen Tränengassalven zu vertreiben. Auch Blendgranaten werden eingesetzt. Regierungsgegner wiederum errichten Barrikaden und werfen mit Steinen auf die Polizei. Dabei erleiden nach Berichten von Ärzten mindesten 50 Protestierer Knochenbrüche und Augenreizungen. Auch mehr als 100 Polizisten sollen nach Behördenangaben verletzt worden sein.

Als Zeichen des Protestes hatten am Wochenende nationalistische Demonstranten zudem das Rathaus besetzt. Anhänger der rechtsextremen Freiheitspartei und des Vorsitzenden Oleg Tjagnibok drangen in das Gebäude ein. Tjagnibok rief den Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz zu, „unsere Jungs haben das Rathaus in Kiew übernommen“. Oppositionelle Abgeordnete betonten, die Protestierer hielten sich lediglich dort auf, um sich zu wärmen. Die Freiheitspartei lehnt eine stärkere Anbindung der Ukraine an Russland strikt ab.

Der regierungskritische 5. Fernsehkanal zeigt allerdings auch, wie friedliche Demonstranten die vermummten Gewalttäter zu bremsen versuchten. Die Opposition verurteilte die Randale. „Der Sturm des Präsidentensitzes ist eine Provokation der Regierung, um die friedliche Aktion auf dem Unabhängigkeitsplatz zu diskreditieren“, sagte Boxweltmeister und Oppositionsführer Vitali Klitschko. Auch er weiß, dass Gewalt der Forderung nach einem Rücktritt Janukowitschs und seines Regierungschefs Nikolai Asarow schadet, die „den europäischen Traum der Ukraine zerstört“ hätten. Mehrere Botschafter aus EU-Ländern waren als Augenzeugen auf der Straße; auf dem Gerüst für den zentralen Weihnachtsbaum hatten Demonstranten die Fahne der EU gehisst.

Das ukrainische Innenministerium hatte einen harten Kurs gegenüber den Demonstranten angekündigt. Die Polizei werde nicht zulassen, dass die Ukraine zu einem Land wie Libyen oder Tunesien werde, wo Volksaufstände Regierungen zu Fall brachten.

Der Präsident soll sich derweil auf seine Residenz zurückgezogen haben. Zu Wort meldet er sich nur kurz am Morgen, als er wieder einmal sein vorläufiges Nein zur EU-Annäherung rechtfertigt. Die Ukraine dürfe keinen Nachteil erleiden, teilt er mit. Zu groß ist noch der Druck des Nachbarlandes Russland. Dann widmet sich Janukowitsch demonstrativ seinen Amtsgeschäften: Er gratuliert dem Schweizer Präsidenten Ueli Maurer zum Geburtstag.