Krankenversicherung für alle ist das zentrale Projekt des Präsidenten. Doch die Technik versagt, Bürger sind misstrauisch

Washington. Der US-Präsident reagiert beleidigt auf sein Pech, seine Demokraten gehen von der Fahne, und die republikanische Opposition feiert: Das bedeutendste Reformwerk Barack Obamas, der „Affordable Care Act“ (ACA), die erschwingliche Krankenversicherung, droht an technischem und politischem Versagen seiner Regierung sowie wachsendem Misstrauen der Bürger zu scheitern. Sechs Wochen nach Inkrafttreten der Krankenkassenreform, landläufig „Obamacare“ genannt, haben 106.000 Antragsteller den Prozess erfolgreich abgeschlossen. Das entspricht einem Fünftel der prognostizierten Zahlen.

Das Weiße Haus gab dem Druck in der Öffentlichkeit und aus der eigenen Partei nach: Durch eine Richtlinienänderung sollen Millionen Versicherungsnehmer, die laut dem ACA unterversichert sind und gekündigt wurden, ihre Verträge behalten dürfen. Die Versicherer müssen sich verpflichten, ihre Kunden auf Verträge mit besseren Leistungen hinzuweisen. Nachbesserungen, Erklärungen und Anreize scheinen dringend nötig, denn nur knapp 27.000 Bewerber vollendeten auf der von Fehlern und Abstürzen geplagten Webseite des Bundes (HealthCare.gov) ihre Anmeldung. Die übrigen Neuabschlüsse kamen über eigene „Marktplätze“ in 14 US-Bundesstaaten zustande. In 36 Staaten widersetzten sich die republikanischen Regierungen und Parlamente der Einführung eigener ACA-Angebote. Dies trägt erheblich zur Überlastung der Bundeswebseite bei. Bis Ende März 2014 müssten nach amtlichen Schätzungen sieben Millionen Amerikaner krankenversichert sein, um Obamacare Leben einzuflößen.

Für den republikanischen Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, John Boehner, sind die erstmals amtlich bestätigten Zahlen nicht nur „ein Symbol des Scheiterns“ des ACA, sondern „eine wachsende Katastrophe, die beendet werden muss“. Sein Fraktionskollege Darrell Issa, der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses zum „Affordable Care Act“ nannte den Start der Reform auf der unausgereiften Webseite des Bundes einen „monumentalen Fehler“. Die Reform sei „auf der Startrampe explodiert“. Nicht wenige Abgeordnete der Demokraten dürften dem ultrakonservativen Republikaner aus Ohio heimlich zustimmen.

Nancy Pelosi warnte schon vor einer Meuterei der Demokraten gegen ihren Präsidenten im Unterhaus. Die Kalifornierin führt die Fraktion seit Jahren, und sie hat sie bei Abstimmungen im Griff. „Wir alle haben (gegenüber dem Weißen Haus) Verbesserungsvorschläge gemacht“, sagte Pelosi über das ACA-Debakel, „aber wir wissen nicht, was sie tun werden.“ Es sind die Demokraten im Kongress, die in einem Jahr bei den Zwischenwahlen die Rechnung für ein Scheitern des ACA zu begleichen hätten.

Sollte der Präsident die Demokraten nicht noch in dieser Woche mit einem eigenen Rettungsplan aus dem Dilemma helfen, werden wohl etliche Demokraten am Freitag für einen Gesetzentwurf der Republikaner stimmen. Das Gesetz sieht vor, die Gültigkeit von Krankenkassenverträgen um ein Jahr zu verlängern, selbst wenn sie die Minimalanforderungen der ACA-Reform nicht erfüllen. Zugleich würde es neuen Antragstellern erlauben, solche Billigversicherungen mit extrem hohen Eigenbeteiligungen neu abzuschließen. De facto bedeutet das: Obamacare wäre tot, bevor es laufen gelernt hat.

Denn es sind die jungen, gesunden, zur Sorglosigkeit neigenden Amerikaner, die „Invincibles“, die solche Billigversicherungen abschließen oder ganz verzichten. Ohne sie aber, die zahlen, aber kaum Leistungen beziehen, wäre der Versicherungspool zu unausgewogen, um profitabel zu sein. Die US-Regierung wirbt mit schamlosen Versprechungen um die „Unbesiegbaren“: Die Hälfte der jungen Amerikaner bis 35 Jahre, verspricht sie auf ihrer Webseite, könnten durch Obamacare für eine Monatsprämie von 50 Dollar oder weniger versichert werden. Im Kleingedruckten liest sich das anders. Etwa 100 Dollar im Monat ist ein realistischerer Durchschnittsbeitrag. Hundert Dollar zu viel für Millionen junger Leute, die meinen, natürlich nie krank zu werden oder Unfälle zu erleiden.

Dramatischer hätte das politische Glück sich nicht wandeln können. Noch vor einem Monat, während der von den Republikanern erpressten Lähmung der Regierung, waren die Demokraten geeint wie selten. Nun sonnen sich die Republikaner im Debakel des Reformstarts. Ihre Propaganda unterscheidet nicht zwischen technischem Versagen und dem Ziel der Reform – Millionen unversicherte Amerikaner und den Steuerzahler, der für ihre Notversorgung aufkommt, besser zu schützen.

Die Demokraten würden sich eine so leichte Beute allerdings auch nicht entgehen lassen. Am historischen Tiefststand des Ansehens des US-Parlaments (neun Prozent Zustimmung) dürften die Ränkespiele nichts ändern. Obama bleibt wenig mehr, als um Geduld zu bitten und zu versprechen, dass die Softwareprobleme bald gelöst würden. Immer weniger glauben ihm. Die Umfragewerte des Präsidenten sinken und reißen seine Partei mit hinab.