Möglicherweise waren es uigurische Terroristen, die in eine unbeteiligte Menschengruppe auf dem Tiananmen-Platz rasten

Peking. Hinter der Amokfahrt eines Jeeps mitten im Herzen Pekings in eine unschuldige Menge aus Touristen und Passanten hinein, steckt vermutlich ein Terrorakt, oder verzweifelte Flucht vor der Polizei. Trotz der fünf Toten und 38 Verletzten, die Opfer der Raserei vor dem Tor des Himmlischen Friedens, dem Eingang zur Verbotenen Stadt wurden, schwiegen bis Dienstagnachmittag die Polizeibehörden offiziell über die Ursachen. Zeitungen und Onlinemedien, die unter einer neu angezogenen staatlichen Zensur und Kontrolle stehen, trauten sich nicht, dazu Fragen zu stellen. Nur die englischsprachige Ausgabe der Pekinger „Global Times“, die für eine kleine, meist ausländische Leserschaft herausgegeben wird, schrieb im Gegensatz zur chinesischen Ausgabe, dass die Polizei einen terroristischen uigurischen Hintergrund der Amokfahrt vermute. Sie hätte das uigurische Nummerschild des Tatwagens und inzwischen zwei Uiguren aus der Provinz Xinjiang als Beteiligte identifiziert. Die beiden hätten zuvor ein „großes Verbrechen“ begangen. Die „Global Times“ berief sich auch auf Augenzeugen, wonach der Unglückswagen von Polizeiwagen verfolgt wurde.

Die Uiguren sind eine muslimische Minderheit in Chinas westlicher Provinz Xinjang. Seit Jahren gibt es dort immer wieder gewalttätige Proteste gegen die chinesische Herrschaft. Sollte sich der Verdacht erhärten, wäre es der erste Selbstmordanschlag von Uiguren in Peking. Die Gegend um den Platz des Himmlischen Friedens wird von einem starken Polizeiaufgebot bewacht. Der Platz war Zentrum der Demokratiebewegung, die 1989 vom Militär gewaltsam niedergeschlagen wurde.

Offiziell durften nur wenige Fakten des Hergangs bekannt gegeben werden: Danach bog Montagmittag ein Jeep, der aus der einst kaiserlichen Nebengasse Nanchizi-Lu kam, nach rechts auf den Fahrradweg und Bürgersteig der Autostraße Changan-Boulevard ab. Der Wagen fuhr laut hupend und mit hohem Tempo die 400 Meter des Nebenwegs entlang, bis er auf Höhe des Tiananmen-Tores mitten hinein in Passanten, Touristen und Zivilpolizisten preschte. Er rammte den Pfeiler der uralten marmornen Jinshui-Brücke, die zum Tor führt. Dort hängt auch das sechseinhalb Meter hohe Porträt des Staatsgründers Mao Tsetung direkt unter der Brüstung des Tores, von der Mao am 1. Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China proklamierte. Die ersten Fotos auf Mikroblog, die die Webseite der Zeitschrift „Caixin“ veröffentlicht, zeigen den Jeep nach einer vermutlichen Benzinexplosion in Flammen neben dem Mao-Porträt stehen. Polizei löschte den Brand und verhüllte den Tatort mit olivgrünen hohen Bauplanen.

Fünf Opfer, darunter zwei Touristen, eine Philippinin und ein Mann aus Südchinas Provinz Guangdong starben noch am Unfallort. 38 wurden verletzt. Unter ihnen sind drei Philippiner und ein Japaner. Erst fünf Stunden nach dem Unglück gegen 12.05 Uhr wurden alle Opferzahlen bekannt gegeben. Der Unfallort ist ein heiliger Platz der Revolution, der Zeitpunkt noch heikler: Im November kommt das Zentralkomitee in Peking zum großen Wirtschaftsparteitag zusammen, der einen neuen Fahrplan für die Zukunft Chinas entwerfen soll.

„Es wird ermittelt“ ist die einzige Auskunft der Polizei. Alle Medien sollen weitere Auskünfte abwarten. Die vier großen Boulevardzeitungen der Hauptstadt halten sich daran. Sie vermelden am Dienstag nur einen „Verkehrsunfall am Tiananmen“. Keine der Zeitungen deutet an, dass mehr als ein Unfall dahintersteckt. Nach Internet-Berichten, die schnell wieder gelöscht werden und sich auf interne Polizeiaussagen berufen, hätte der Jeep ein Xinjianger Kfz-Kennzeichen. Zwei der drei Insassen sollen nach ihren Personalausweisen Moslems und Brüder sein.

Die Onlineposter, die solche Nachrichten verbreiten, gehen ein hohes Risiko ein. Zwei Monate, nachdem die Parteibürokratie mit ihrer Kampagne gegen „Online-Gerüchte“ begonnen hat und die Justiz die Verbreitung oder auch nur Weiterleitung von „Gerüchten“ mit bis zu drei Jahren bestrafen darf, geht das Pekinger Kalkül auf. Die Angst vor Verfolgung lässt die meisten Mikroblogger weitgehend stillhalten.

Noch Mitte Oktober hatte der Staatsrat Befürchtungen in der Öffentlichkeit zu zerstreuen versucht, dass der Staat auf Rückwärtskurs zum alten System der Lenkung und verstärkten Kontrolle der Medien und von Online fährt. Der Pekinger Staatsrat gab einen Erlass mit sofortiger Wirkung heraus. Er schreibt staatlichen Behörden vor, mehr Offenheit zu demonstrieren und ihre Informationspolitik zu verbessern. Sie sollten von sich aus „aktiv, zeitschnell, umfassend und zutreffend“ die Öffentlichkeit über alle wichtigen Vorkommnisse informieren, um Vertrauen in ihre Arbeit zu schaffen.

Schon bei der ersten aktuellen Probe aufs Exempel – der Amokfahrt am Tiananmen – aber ziehen sich die Behörden wieder auf ihre alte Politik zurück.