Sie wollen weg aus ihrer Heimat, aus Angst vor Hunger oder Verfolgung. Aber in Europa finden nur wenige eine sichere Existenz. Raheem – ein italienisches Schicksal.

Er hat im Mailänder Hauptbahnhof geschlafen. In der Wartehalle auf dem nackten Steinboden, in Abstellkammern, in Gebüschen an den Gleisen. Jetzt, mehr als vier Jahre später, arbeitet er hier. In einer Buchhandlung. Raheem* ist für Zeitungen und Zeitschriften zuständig.

Vier Stunden am Tag erfasst er die Ware, sortiert sie in die Regale. Das Magazin ist kalt und zugig. Die Wände sind nackt und weiß. Krankengeld gibt es nicht, die Ferien sind unbezahlt. Arbeitgeber ist nicht die Buchhandlung, sondern ein Personaldienstleister. Er schiebt die Menschen dorthin, wo sie gerade gebraucht werden. Alles ist kurzfristig, nichts von Dauer. Ende Oktober endet der Vertrag. Ob er verlängert wird, ist ungewiss. Es sind die Brutalitäten der modernen Arbeitswelt. Für Raheem ist sie wie ein kleines Paradies. „Ich kann mir eine eigene Wohnung leisten“, sagt er.

Raheem hat viel hinter sich. Und viel erlitten. Im August 2008 flieht der heute 34-Jährige aus Pakistan. Seine Frau, im siebten Monat schwanger, lässt er zurück. Er bezahlt eine Schlepperbande, nach Europa soll sie ihn bringen. Vier Monate dauert die Reise, eingepfercht auf einem Lkw. Den Iran erreicht er problemlos. „Dann beginnt das Kasino“, sagt Raheem.

Die Türkei sperrt sich, wochenlang harrt er an der Grenze aus. „Einige Passagiere waren von Läusen übersät. Die Insekten fraßen die Haut, da war überall Blut.“ Irgendwann, er hat kein Zeitgefühl mehr, geht es weiter. In Griechenland wird der Transporter auf ein Schiff verladen, Ziel Italien. An den Hafen kann er sich nicht erinnern. Dann wird er in Mailand abgesetzt. Es ist der Winter 2008. Er ist ganz allein, als sein zweites Leben in Italien beginnt.

Italien ist für viele Flüchtlinge das Tor zu Europa und damit in eine bessere Zukunft. Doch häufig entpuppt sich das Land als Endstation Sehnsucht. Daran schmerzhaft erinnert wurde die Weltöffentlichkeit am 3. Oktober. Ein Schiff mit 500 Afrikanern kentert vor der Mittelmeerinsel Lampedusa. 155 wurden gerettet, die Übrigen ertranken. Die Politik reiste nach Lampedusa.

Italiens Ministerpräsident Enrico Letta und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso versprachen Besserung. Seitdem wird diskutiert. Über europäische Grenzkontrollen. Über ein konzertiertes Vorgehen gegen Schlepperbanden. Über die Abschaffung des Straftatbestands „illegale Einwanderung“, der dazu führt, dass den 155 Geretteten der Havarie Geldstrafen von bis zu 5000 Euro pro Kopf drohen.

Das alles mag sinnvoll sein. Die Geschichte Raheems zeigt jedoch, woran es in den europäischen Ländern mangelt und worüber leider selten gesprochen wird. Es fehlt ein klarer und gut finanzierter Integrationsplan, der den Flüchtlingen den Weg durch den Behörden- und Verfahrensdschungel weist. Der ihnen erklärt, wo sie nachts schlafen, wo sie eine Suppe bekommen, wo sie über Rechte aufgeklärt werden, wo sie den Asylantrag stellen, wo sie die Landessprache lernen, wo sie an einer Berufsschulung teilnehmen, wo sie Arbeit finden und wo sie die Erlaubnis einholen, ihre Familie zu sich zu holen.

Die traurige Wahrheit: Für die Menschen, die Hunderte oder Tausende Kilometer hinter sich haben, beginnt in Europa allzu häufig eine zweite Odyssee, die vielleicht weniger gefährlich, dafür aber meist länger und nicht weniger kräftezehrend ist. Auf dem Papier ist alles eindeutig. Italien ist ein Einwanderungsland. Laut dem aktuellen Zensus kommen auf 59 Millionen Einwohner knapp vier Millionen Immigranten. Über die zehn Jahre bis 2011 nahm ihre Zahl um mehr als 200 Prozent zu. Großzügig wird Asyl gewährt. 17.350 Anträge wurden 2012 gestellt. Damit liegt Italien in der EU laut dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) zwar nur auf dem siebten Platz – hinter Deutschland, Frankreich, Schweden, Belgien, Großbritannien und Österreich. Gestattet wurden von Italien allerdings 61 Prozent der Anträge. Nur Malta weist mit 90 Prozent einen höheren Wert auf. Der europäische Durchschnitt liegt bei gerade 28 Prozent.

Ein Netz an Auffangzentren soll dafür sorgen, dass die Flüchtlinge in den ersten Wochen nicht auf der Straße übernachten müssen. Wer in Lampedusa oder woanders an Land kommt, wird für die ersten 20 bis 35 Tage in ein Notlager gebracht.

Er wird fotografiert, sein Fingerabdruck wird genommen. Dann wird er weitergeleitet, meist in Großstädte. Dort gibt es Asylheime. Während die Flüchtlinge darauf warten, dass ihr Asylantrag gewährt wird, können sie Italienisch lernen. Orientierung geben die Polizei und die Informationsstelle für Asylbewerber.

So weit die Theorie. Die Praxis sieht anders aus. „Die meisten Auffangzentren in Italien sind schrecklich“, sagt Christopher Hein, Direktor des Flüchtlingswerks Consiglio dei Rifugiati in Rom. „Richter in mehreren europäischen Ländern weigern sich, die Flüchtlinge wegen der schlechten Unterkünfte nach Italien zurückzuschicken.“ Es gebe zu wenig Betten. In Mailand stehen gerade einmal 500 zur Verfügung.

Als Raheem Ende 2008 am Hauptbahnhof steht, hat ihn niemand kontrolliert – geschweige denn seine Fingerabdrücke genommen. Er ruft erst mal einen Pakistani in Brescia an, den Bekannten eines Bekannten. Statt ihm zu helfen, Dokumente wie Asylantrag und Aufenthaltsbewilligung zu beantragen, hat der Landsmann eine andere Idee. Raheem soll Flugblätter verteilen und ein bisschen Geld verdienen.

So reiht sich der junge Mann in das Heer der Namenlosen, die Tag und Nacht durch italienische Städte strömen. Die Pakistani verteilen Flugblätter, die Senegalesen spirituelle Erbauungsliteratur, Bangladeschi Blumen. „Das ist Sklaverei“, sagt Raheem. Er sagt sich los und fährt nach Mailand zurück.

Mit einem Senegalesen und einem Chilenen schlägt er sich die ersten Nächte am Mailänder Hauptbahnhof durch. Dann nähert sich ein Mann, der einen roten Overall und eine blaue Mütze trägt. Es ist ein City Angel. Einer der vielen Freiwilligen, deren gemeinnützige Organisation Obdachlosen hilft.

Er nennt eine Adresse, die einen Schlafplatz vermittelt. Tagsüber irrt er umher. In Como und Varese meldet er sich bei der Polizei. Sie weisen ihn ab. „Sie sprachen kein Wort Englisch“, sagt er. In Mailand kampiert er zwei Nächte vor der Polizeiwache. Erst dann hat er eine Chance, als einer der ersten morgens hineinzukommen, die Schlange ist lang. Am Schalter drückt man ihm einen Zettel in die Hand. Darauf steht: „Kommen Sie in vier Jahren wieder.“ Raheem folgt einem Afghanen, den er im Obdachlosenheim kennengelernt hat, nach Sizilien.

Im Lager Caltanissetta, einem umgebauten Depot für Munition und Sprengstoff, kommt er unter. Zusammen mit vielen anderen wird er nach Crotone in Kalabrien geflogen, in ein zweites Auffangzentrum. Rund 1300 Menschen drängen sich dort auf engstem Raum. Raheem bleibt fünf Monate. Er stellt seinen Asylantrag und kehrt im Sommer 2009 nach Mailand zurück.

In Europa gilt die Personenfreizügigkeit. Nicht jedoch für Asylanten, beziehungsweise Asylbewerber. Die Dublin-II-Verordnung schreibt vor, dass ein Flüchtling in dem Land, in dem er ankommt, seinen Antrag stellen und bleiben muss. Italien steht deshalb in der Verantwortung, die Personen, die an den Küsten landen, in die Gesellschaft zu integrieren.

Die Zentralregierung hat das Programm Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati (kurz: SPRAR) lanciert. Für sechs bis acht Monate wird eine Unterkunft gestellt und Kurse für die Berufsqualifizierung durchgeführt. Gab es ursprünglich nur 3000 Plätze, so sind es landesweit inzwischen mehr als 8400. Vor Kurzem wurde entschieden, die Kapazität bis 2016 auf 16.000 Plätze auszubauen. Die Städte ergänzen das durch eigene Angebote. In Mailand gibt es das Bildungszentrum Via Fleming und Celav, eine Berufsinformationsstelle. Um Unternehmen zu ermuntern, Asylanten einzustellen, zahlt die Stadt das volle Gehalt. Borsa Studio heißt das. Gemeinnützige Zentren wie das Naga Har im Südosten der Stadt dienen als Begegnungsstätte. Es wird Fußball gespielt, musiziert und gemalt.

Am Eingang werden Fahrräder repariert. Es ist ein Fahrradverleih. Auf dem Drahtesel kommt man billig voran. Die Mailänder Verkehrsbetriebe sind nicht verhandlungsbereit, sie verlangen den vollen Ticketpreis. „Das hat zu einer Lawine an Bußen geführt, die unsere Besucher niemals bezahlen können“, sagt Chiara Cottatellucci, freiwillige Mitarbeiterin im Naga Har.

Wunder bewirken die Bemühungen nicht. In Mailand besuchen weniger als 19 Prozent der Flüchtlinge die Fortbildungskurse. Vor allem die Männer bleiben fern. Nach den zehn Monaten in einem Auffangzentrum stehen viele vor dem Nichts, die Arbeitslosenquote liegt bei 35 Prozent. Wer einen Job findet, arbeitet meist als Bedienung im Restaurant, als Lastenträger oder Lagerist. Manche schuften als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Nicht selten ersetzen die Firmen den einen Asylanten durch den nächsten, um sich nicht lange binden zu müssen.

Im Sommer 2009 wird Raheem, der in Pakistan in der Verkaufsabteilung eines Pharmaunternehmens gearbeitet hat, von der Auskunftsstelle in Mailand abgewiesen. Er übernachtet in Parks. Tagsüber fragt er Passanten auf Englisch: „Haben Sie Arbeit für mich?“

Bei einer Bäckerei hat er Glück. Giuseppe, gebürtig aus Apulien, stellt ihn ein. Ohne Vertrag, schwarz. Raheem macht alles. Er trägt Brote umher, wiegt sie, lacht über die Witze des Chefs, auch wenn er sie nicht versteht. Dann steht auf einmal die Finanzpolizei vor der Tür. Giuseppe weist Raheem an, schnell zu verschwinden. Er versteckt sich im Keller. Er hat Panik, er weint. „Ich dachte, jetzt ist alles aus.“ Doch die Guardia di Finanza findet ihn nicht.

Im März 2010 wird sein Asylantrag durchgewinkt. Er lernt Italienisch und heuert bei Vodafone an und vertreibt Breitbandanschlüsse. Dann findet er die Stelle in der Buchhandlung. Zu Ende ist die Reise damit aber noch nicht. Seine Frau und sein Kind werden ihm in die Fremde nachfolgen. Die Papiere sind beantragt, jetzt hängt es von den Behörden in Pakistan ab. „Wenn meine Familie kommt, ändert sich alles“, sagt Raheem. Dann beginnt ein neues Leben. Sein drittes.

* Name von der Redaktion geändert