Frankreichs Präsident möchte Fingerspitzengefühl zeigen – und erntet Hohn und Spott

Paris. Bis Freitag war François Hollande ein Präsident mit niedrigen Beliebtheitswerten, dem der Ruf vorauseilte, keine Entscheidungen treffen zu können. Seit Sonnabend ist Hollande ein Präsident mit noch niedrigeren Beliebtheitswerten, von dem man nun weiß, dass er, wenn er die Wahl zwischen zwei ungünstigen Alternativen hat, sich für eine dritte, noch schlechtere entscheidet.

Beim Versuch, es allen recht zu machen, hat er alle gegen sich aufgebracht. Und er hat mit seinem „pseudo-salomonischen“ Urteil („Le Figaro“), der 15-jährigen Leonarda Dibrani, die mit ihrer Familie in das Kosovo ausgewiesen worden war, alleine die Rückkehr nach Frankreich zu erlauben, eine äußerst seltene politische Leistung erbracht: Es ist ihm gelungen, einen Konsens quer durch die politische Landschaft Frankreichs herzustellen. Von ganz links bis ganz rechts sind sich ausnahmsweise alle mal einig: Der Präsident hat versagt.

„Fiasko“ lautet die Schlagzeile auf der Titelseite des konservativen „Figaro“, der Leitartikel spricht von einem „politischen Bankrott“. Der Kommentar der linken „Libération“ spricht von einer „zerstörerischen Ereigniskette“ für Hollande und seine Mehrheit.

Am Wochenende war der Präsident vor die Kameras getreten und hatte das getan, was die Medien in der seit einer Woche schwelenden Affäre verlangt hatten. Er äußerte sich: Die Entscheidung, die siebenköpfige Roma-Familie Dibrani nach Ablehnung ihrer Asylanträge in das Kosovo abzuschieben, sei formal korrekt gewesen, es habe keine „Fehler“ im Verfahren gegeben, sagte Hollande und entlastete damit seinen Innenminister Manuel Valls. Jedoch, so Hollande, hätten die Behörden es an „Fingerspitzengefühl“ fehlen lassen. Sie hätten die 15-jährige Leonarda nicht während eines Schulausflugs aufgreifen sollen.

Dann unterbreitete er der Ausgewiesenen ein Angebot: Frankreich sei bereit, sie wieder zu empfangen. Allerdings nur sie allein, nicht ihre Familie. Noch bevor sich die Kommentatoren daran machen konnten zu bewerten, wie durchdacht wohl das Angebot eines Staatspräsidenten ist, einer 15-Jährigen vorzuschlagen, sie möge ihre schulische Laufbahn ohne ihre Familie in Frankreich fortsetzen, sendeten nahezu sämtliche Fernsehsender des Landes live den Kommentar von Leonarda aus Mitrovica. Dort hatte die Familie die Ansprache des Präsidenten über das Mobiltelefon eines französischen Journalisten verfolgt. Leonarda ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Offerte für ungenügend hielt: „Der Präsident hat kein Herz“, bemängelte sie, und stellte klar: „Ich gehe nicht alleine nach Frankreich.“

Überwog bis dahin vielleicht noch das Mitgefühl, sorgten die weiteren Ausführungen Leonardas für Unbehagen: „Das ist noch nicht zu Ende, das wird eine Katastrophe“, sagte sie, offenbar in Anspielung auf die Demonstrationen, die Pariser Schüler seit Tagen zu ihrer Unterstützung veranstalteten.

Ein nassforsch auftretendes Mädchen schlug vor laufenden Kameras die ausgestreckte Hand des Präsidenten aus. Eine ähnliche Anspruchshaltung hatte zuvor schon Leonardas Vater erkennen lassen, der verlauten ließ, dass seine Familie so oder so nach Frankreich zurückkehren werde.

Daheim verschärften derweil Hollandes Parteifreunde die Autoritätskrise des Präsidenten. Denn mit seinem Kompromissvorschlag hatte er die tiefe Spaltung seines Lagers in der Einwanderungspolitik offengelegt. Der Parteivorsitzende der Sozialisten, Harlem Désir, sagte, Leonarda müsse natürlich „mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Frankreich“ zurückkehren. Darüber wolle er mit dem Präsidenten noch reden. Innenminister Manuel Valls erklärte das Gegenteil: Die Familie kehre auf keinen Fall nach Frankreich zurück. Die Grünen nannten die Entscheidung des Präsidenten „unverständlich und unmenschlich“, die Kommunisten sprachen von einer „widerlichen Grausamkeit“. Die konservative Opposition sprach derweil von einer „karikaturhaften Entscheidungslosigkeit“. Der Vorsitzende der UMP, Jean-François Copé, erkannte einen „fürchterlichen Schlag für die Autorität des Staates“. Man mache sich über Frankreich und seine Gesetze lustig.

Ziemlich gute Laune hat derzeit hingegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen. Sie dürfte die Einzige sein, die von der Affäre profitiert. Der Präsident solle zurücktreten, sagte sie im Radiosender Europe 2. „Er hat überhaupt keine Autorität mehr. Unter dem Druck von ein paar linken Studenten hat er das Gesetz gebrochen.“