Die Katastrophenmeldungen reißen nicht ab: Europa ringt um eine Antwort auf die Flüchtlingsdramen mit Hunderten Toten. Neben Afrikanern kommen auch immer mehr Syrer über das Mittelmeer nach Europa.

Die Verzweifelten halten die jüngsten Katastrophenmeldungen nicht ab: Auch am Montag erreichte wieder ein Boot mit Migranten aus Nordafrika den Hafen der Mittelmeerinsel Lampedusa. Vor eineinhalb Wochen war hier ein Boot mit Flüchtlingen gekentert und hatte mehr als 350 Menschen in den Tod gerissen. Am Freitag ging etwa 100 Kilometer vor der Insel ein weiteres Schiff mit Flüchtlingen unter. 34 Menschen kamen dabei um. Lampedusa, das nur 113 Kilometer von Tunesien entfernt liegt, ist eines der Hauptziele von Flüchtlingen und Einwanderern, die in Europa ein sicheres und besseres Leben suchen.

Doch unter deutschen und europäischen Politikern herrscht Hilflosigkeit. „In der Flüchtlingspolitik ist ein Umdenken nötig“, sagen die einen. „Europas Aufnahmefähigkeit ist begrenzt“, hört man von anderen. Beide Lager haben recht – und finden dennoch kaum zusammen. Dabei ist Handeln dringend geboten. Wie könnte ein moderates Umdenken aussehen? Eine in den vergangenen Tagen oft erwähnte Forderung ist die nach einem „humanitären Korridor“ für Flüchtlinge. Hilfsorganisationen wie Pro Asyl und Politiker des linken Flügels schlagen dies vor. Hintergrund ist die Tatsache, dass Asyl derzeit nur von europäischem Boden aus beantragt werden kann. Menschen, die vor Verfolgung und Krieg fliehen, müssen oft noch eine lebensgefährliche illegale Einreise auf sich nehmen.

Eine Idee ist daher, humanitäre Visa in den europäischen Vertretungen vor Ort zu vergeben, damit die Menschen zwecks Asylantrag nach Europa kommen können. Die Schweiz zum Beispiel verfügt über ein solches Modell. Der Alpenstaat handhabt die Visa-Vergabe relativ streng. Pro Asyl verlangt, mindestens Visa an Flüchtlinge zu geben, die Familie in Europa haben. „Im Moment sind Schutz suchende Menschen auf Schlepperbanden angewiesen“, unterstreicht die grüne Europaabgeordnete Ska Keller.

Für Flüchtlinge, die ihr Heimatland bereits verlassen haben, könnte das sogenannte Resettlement („Neuansiedlung“) infrage kommen. Bei diesem Verfahren identifiziert das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Menschen, die besonders schutzbedürftig und ohne Perspektive sind. Es verteilt die Flüchtlinge auf kooperationswillige Länder. Europa hat im Moment etwa 5000 Resettlement-Plätze, in den USA sind es 50.000. Das UNHCR bittet die Staatengemeinschaft bereits händeringend darum, neue Plätze zu schaffen. „Die Chancen, dass Deutschland das Resettlement ausbaut, sind in meinen Augen gar nicht so schlecht“, sagte UNHCR-Sprecher Stefan Telöken. „Alle Parteien haben sich in ihren Wahlprogrammen dafür ausgesprochen.“ Allerdings dürfe Resettlement nicht zur Erosion regulärer Asylverfahren führen.

Viele der Menschen an Europas Grenzen sind allerdings weder Kriegs- noch politische Flüchtlinge, sondern haben schlicht keine wirtschaftliche Perspektive. Sie sind oft verzweifelt, fallen aber nicht unter Asyl- oder humanitäre Regeln. Politiker aller Couleur sind sich einig, dass „die Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern“ dringend geboten wäre.

Doch wo beginnen? Das Elend in Afrika hat vielfältige Ursachen. Europa könnte durchaus manches lindern: Es könnte sich etwa von afrikanischen Fischgründen fernhalten und Bauern nicht dadurch schaden, dass es Nahrungsmittel zu Dumpingpreisen auf lokale Märkte wirft. Doch Europa fühlt sich den eigenen Konzernen und den Konsumenten verpflichtet, von denen viele selbst sparsam leben müssen.

Solange die Misere in Afrika bestehen bleibt, steigt der Druck illegaler Einwanderung. Wirtschaftsexperten unterstreichen daher, dass die EU-Länder ihre Scheu vor mehr legaler Arbeitsmigration ablegen sollten. „Das könnte den Druck an Europas Grenzen zumindest etwas verringern“, sagt etwa der Migrationsforscher Thomas Liebig von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Allerdings dürfe man keine unrealistischen Erwartungen bei Migranten wecken.

Obwohl sich das Jobangebot in vielen EU-Ländern infolge der Wirtschaftskrise verringert, gebe es stellenweise strukturellen Bedarf an Arbeitskräften, selbst im niedrig qualifizierten Bereich – so suchten Privathaushalte nach Betreuungspersonal für alte Menschen. Die EU-Kommission in Brüssel gibt seit vielen Jahren Anregungen für gesteuerte Arbeitsmigration – unbefristet oder befristet, häufig gekoppelt an Ausbildungsinitiativen. Die EU-Regierungen indessen schmetterten die meisten Ideen ab. Ihnen ist nach wie vor wohler, wenn Brüssel sich beim Thema Zuwanderung nicht einmischt – sondern sich vor allem mit der Abwehr und der Abschottung beschäftigt.

Aber auch das wird immer schwieriger werden. Denn der Strom der Flüchtlinge kommt längst nicht nur aus Afrika. Noch vor einem Jahr etwa war zum Beispiel Ägypten für viele Syrer ein sicherer Ort der Zuflucht vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land. Doch inzwischen haben sich auch dort die Verhältnisse geändert, und immer mehr Syrer sehen sich nun abermals zur Flucht gezwungen, zumeist per Schiff über das Mittelmeer in Richtung Europa. Unter denen, die sich von Ägypten nach Süditalien durchschlagen wollten, waren im September auch der Menschenrechtsanwalt Hassan und der Fußballspieler Abdel Rahman. Beide zahlten Menschenhändlern jeweils etwa 3000 Dollar (2200 Euro) für die Reise.

Doch kaum war das Schiff unterwegs, wurde es von der Küstenwache gestoppt. Der Kapitän habe Warnschüsse ignoriert, erklärt Anwalt Hassan. Weitere Schüsse trafen zwei Menschen an Bord tödlich. Die anderen, etwa 100 überwiegend syrische Flüchtlinge wurden in ein Gefängnis der Hafenstadt Alexandria gebracht. Trotz des hohen Risikos versuchen immer mehr Syrer, von Ägypten nach Europa zu gelangen. Erst am Freitag ertranken zwölf Menschen bei einem Schiffsuntergang vor Alexandria. Weitere 116 überlebten laut staatlichen ägyptischen Medien.

„Vor einem Jahr war Ägypten wie eine Blume, die sich öffnet“, sagt Anwalt Hassan telefonisch aus dem Gefängnis. „Es war der Beginn eines neuen Lebens.“ In der schwer umkämpften Provinz Hama hatte er ein kleines Geschäft. Da viele arabische Staaten Syrern die Einreise verweigerten, beschloss er, nach Ägypten zu gehen. Dort war das Leben vergleichsweise preiswert, und Syrer durften seit Jahrzehnten visafrei einreisen.

Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR leben in Ägypten mindestens 111.000 Syrer, vermutlich sogar deutlich mehr. Doch seit der Absetzung von Präsident Mohammed Mursi und seiner Regierung im Juli ist die Situation für syrische Flüchtlinge im Land schwieriger geworden, sie sind unter der von den Streitkräften eingesetzten Regierung nicht mehr wohlgelitten. Dies bringt viele dazu, weiter über das Meer zu flüchten. Im August und in der ersten Septemberhälfte trafen laut UNHCR rund 3300 Syrer, darunter mehr als 230 Kinder ohne Begleitung, an den Küsten Italiens ein. Die meisten kamen aus Ägypten. „Wir hatten keine Ahnung, dass es so gefährlich sein würde“, sagt Hassan. Wie fast alle anderen Syrer oder Palästinenser, die in Syrien lebten und beim Versuch gefasst wurden, Ägypten illegal zu verlassen, haben sie nur die Wahl zwischen Inhaftierung auf unbegrenzte Zeit oder einer Ausreise aus Ägypten. Die Entscheidung ist schwierig, denn nur wenige Staaten sind bereit, Syrer aufzunehmen. Noch weniger Staaten wollen Palästinenser aufnehmen. In Syrien würden die Rückkehrer voraussichtlich festgenommen, im Libanon erhalten Syrer nur ein Visum für 48 Stunden. Die Mehrheit geht in die Türkei, wo bereits mehr als 460.000 syrische Flüchtlinge leben.

Sherif Elsayed-Ali, Leiter der Abteilung für Flüchtlingsrechte bei Amnesty International, übt heftige Kritik an den ägyptischen Behörden. Denn sie zwängen viele syrische Flüchtlinge in lebensbedrohliche Situationen. Dazu zähle, dass diese ihr Leben Menschenschmugglern anvertrauten. Um dem Problem zu begegnen, gründeten jugendliche Aktivisten in Alexandria ein Netzwerk der Solidarität. Es versorgt die syrischen Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln, Arznei und Babywindeln. Die Gründerin der Initiative, die Anwältin Mahinur al-Masri, sagt, in den vergangenen Monaten seien mehrere Hundert Menschen deportiert worden. Etwa 600 seien in Alexandria inhaftiert. Die Regierung habe einen inneren Feind geschaffen, die Muslimbruderschaft, und einen äußeren Feind, die syrischen Flüchtlinge, um die Menschen in einem Zustand der Furcht zu halten.

Fußballspieler Abdel Rahman gibt die Hoffnung nicht auf. Er verpasste eine Anhörung in einer europäischen Botschaft für einen Visumantrag, weil er eine Woche zuvor an Bord des Schiffs ging. Er weiß, dass er vielleicht nie eine zweite Chance erhalten wird, aber er bedauert nichts. „Was würden Sie tun, wenn Sie die Chance Ihres Lebens hätten?“, fragt er. „Ich habe diese Chance bekommen, und ich musste sie nutzen.“