Tsunamis, Erbeben, Überschwemmungen, Flucht und Vertreibung. Wie die Menschen an der Küste Kolumbiens mit den Gewalten des Lebens umgehen

Bogota. Der Ort, in dem Margherita lebt, ist nicht nur geografisch am anderen Ende der Welt. Er ist es auch für alles mitteleuropäische Denken, Fühlen und Leben. Diese Siedlung im Dschungel von Kolumbien direkt am tosenden Pazifik ist über keine Straße zu erreichen. Eine Landepiste, auf der Propeller-Flugzeuge bei gutem Wetter landen und Schnellboote, die über meterhohe Wellen nach stundenlanger Fahrt einen Ort mit Straßenanbindung erreichen, sind der Kontakt zur Außenwelt. Und einige Touristen, die sich selten zum Fischen oder Beobachten der Wale hierher verirren. Es ist einer der Orte, in dem Überleben mehr zählt als Leben. In dem der Horizont nur so weit reicht, wie das Auge schauen kann. In dem Perspektiven oft ein Traum bleiben.

Ich nenne diese Plätze die „Ende-der-Welt-Orte“. Es gibt so viele von ihnen. Hier lande ich nach einem abenteuerlichen Flug über den Urwald. Eine Welt, die ich mir mal wieder vorher versucht habe vorzustellen – und die erneut meine Vorstellungskraft übersteigt. Wie so oft, seit ich für das Kinderhilfswerk Plan International Deutschland arbeite.

Diverse Länder habe ich in den letzten Jahren für Plan besucht und viele von Orten wie diesen gesehen. Jeder von ihnen ist einzigartig. Seine Menschen, ihre Geschichten. Wie die von der resoluten Policarpa. Sie lebt in dieser Region Choco. Die Gegend gehört zu den Ärmsten der Welt, die Menschen leben am Rande der Gesellschaft. Es sind Afro-Kolumbianer und Indianer, tief gezeichnet von jahrzehntelangem Bürgerkrieg und den Gewalten der Natur.

Tsunami-Gefahr, Erdbeben, Überschwemmungen, Erdrutsche, hier kann vieles passieren. Hier trifft es die Menschen unvorbereitet. Oft haben sie mehrfach in ihrem Leben alles verloren. Auch Policarpa. Sie ist eine Art Sozialarbeiterin der Gemeinde, die sich für die Kinder im Ort Tsunami-Lieder ausdenkt, um ihnen die Gefahr bewusst zu machen. Die ihnen Geschichten von den Wellen und dem Wasser erzählt. Und die selbst eine Geschichte zu erzählen hat. Von Ende der 90er-Jahre, als sie eines Tages aufwachte, weil das Wasser plötzlich hüfthoch in ihrem Haus stand – und sie völlig ahnungslos war, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte nie von einer Flut gehört, wusste nicht, woher das Wasser kam und dass es weiter steigen würde. Trotzdem flüchtete sie instinktiv. Mit ihren Kindern auf dem Arm ließ sie alles zurück. Auch ihren Mann, der das Haus nicht verlassen wollte. Weil er den Kühlschrank nicht den Fluten überlassen wollte. Erst nach drei Tagen traf sie ihren Mann wieder. Doch auch alles, was sie danach mit ungebrochener Energie wieder aufbaute, war ohne Bestand. Sie verlor es in den immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen der Guerilla. Nun lebt sie in Bahia Solana, wieder einen Neuanfang. „Man darf sich nicht an Besitz gewöhnen“, sagt sie. „Hauptsache, meine Kinder sind gesund.“ Verlässlichkeit kennen diese Menschen nicht.

„Das ist hier so. Wir werden hier hineingeboren“, sagt die 16 Jahre alte Margherita und lacht. „Wir leben damit.“ Bahia Solana ist einer der niederschlagsreichsten Orte der Welt. Wenn der Regen tagelang auf die Wellblechdächer trommelt, das Gewitter grollt und sich die Wege in reißende Ströme verwandeln, dann weiß Margherita, dass es in den Bergen Erdrutsche geben wird und die wenigen Wege nicht mehr sicher sind. Mit dem Regen kommt die Einsamkeit. Das wird mir klar, als sich der Urwald um mich herum in einen grauen Regenschleier verwandelt. Der Strom fällt aus. Wie lange wird es regnen? Wird das Flugzeug landen können? Aber was für ein Privileg, dort wieder einsteigen zu können – wann auch immer es kommt. Margherita und Policarpa können und wollen das gar nicht. „Weil Veränderung möglich ist“, steht an der Holzhütte, die das Abfertigungsgebäude des Flughafens ist, angeschlagen. Das ist das Statement für die Zukunft der Menschen hier. Ein positives.

Sie haben gelernt, mit den Gewalten des Lebens umzugehen. Man sieht Margherita an, wie stolz sie auf ihr neues Wissen ist. Gemeinsam mit ihrer Freundin Eliana, 12, nimmt sie an einem Katastrophenvorsorgeprojekt teil, das Plan International mit Förderung der Europäischen Union an der Küste Kolumbiens umsetzt. Die beiden Mädchen betreiben einmal in der Woche ihr eigenes Radioprogramm, in dem sie über die Gefahren der Naturkatastrophen berichten. Wie kündigt sich ein Tsunami an? Wohin müssen sich die Menschen retten? Niemals in die Berge, denn dort drohen dann Erdrutsche, sondern zu den Sammelplätzen, die jetzt ausgeschildert sind. „Meine Freundinnen fragen immer, wann ich Musik spiele“, sagt Margherita, „aber mir sind diese Themen wichtiger, denn die Gefahr ist immer da.“

Die kleine Radiostation dient auch dazu, die abgelegenen Gemeinden im Urwald zu warnen. „Dies ist ein Tsunami-Warnung, Achtung, Achtung“, demonstriert Margherita mit ernster Stimme den Notfall. Ihr Studio sind drei Plastikstühle und ein Mischpult, durch die geöffneten Fenster sieht sie in den tropischen Regenschleier. Das wichtigste aber ist die Höhe der Antenne. Sie sendet ihr Programm in die nächsten abgelegenen Orte, dort, wo auch Yosiara, 16, sie empfangen würde. Die beiden trennen zwei Stunden Fahrt über schlammige Urwaldwege oder mit einem Schnellboot die raue Küste entlang. Für viele Menschen hier eine unüberbrückbare Distanz. Yosiara hat, genau wie Margherita, ein Konzept zur Katastrophenvorsorge für ihre Schule geschrieben und ist damit von der Unesco ausgezeichnet worden. Nun steht sie ein wenig kopfschüttelnd vor ihrer Schule und sieht ihren Mitschülern zu, wie sie ein wenig lustlos an der Katastrophenübung teilnehmen. Die Sonne brennt vom Himmel, und die Gefahr ist gerade nicht präsent. Immerhin, alle bleiben ruhig – aus welchem Grund auch immer. „Den größten Fehler, den die Menschen machen können, ist es, durcheinanderzurennen“, sagt Yosiara.

Sie war noch klein, als ihre Heimatgemeinde nach schweren Regenfällen in zwei Teile geteilt wurde. Ihre Familie verlor alles, das Haus, die Tiere. „Aber wir waren alle am Leben“, sagt Yosiara. Das ist das Wichtigste. Hier, wo Überleben manchmal wichtiger ist als das Leben.

Maike Röttger, 46, war von 1990 bis 2010 Redakteurin beim Hamburger Abendblatt. Heute ist sie Geschäftsführerin des Kinderhilfswerk Plan International Deutschland.