Präsidentin Kirchner träumt derweil davon, die Ikone Evita Peron als Volksheldin abzulösen

Buenos Aires. Pünktlichkeit ist nicht gerade eine der Haupttugenden der Argentinier. Doch nach Sergio kann man fast die Uhr stellen. Der Müllmann, der sechsmal die Woche den Abfall vor unserem Hotel beseitigt, klingelt jeden Freitag Punkt 20 Uhr und hält die Hand auf. 50 Pesos (etwa sieben Euro) wechseln den Besitzer. Nicht dass wir ihm etwas zahlen müssten, das ist Aufgabe der Stadt, aber wenn wir ihm nichts geben würden, hätte das Auswirkungen. Zum einen würden Sergio und seine Kollegen dann wohl unseren Müll „vergessen“, zum anderen hätte der Mann in Orange nicht genug Geld, um seine vierköpfige Familie über die Runden zu bringen. Auch der Polizist an der Ecke passt immer ein bisschen besser auf, wenn man seine Arbeit „honoriert“.

Jeder braucht dieser Tage seine „zehn Prozent“ in Argentinien. Die Inflation liegt, nach Angabe von Experten, bei über 30 Prozent. Die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner nennt diese Zahl „Lüge“ und spricht von sieben bis acht Prozent. Jeder Argentinier, mit Ausnahme der Präsidentin, die vermutlich nie selbst einkauft, weiß, dass solche Zahlen getürkt sind. Lebensmittelpreise haben sich in den vergangenen drei Jahren nahezu verdoppelt. Die Lohnsteigerungen können nicht mithalten. Zudem hat Kirchner, seit ihrer Wiederwahl vor zwei Jahren, fast alle Subventionen für Strom, Wasser und öffentlichen Verkehr gestrichen. Der Druck auf die Bevölkerung wächst stetig. Raul Martinez, Besitzer eines Eisladens im Nobelviertel Belgrano, hat keinen Zweifel, dass die Wirtschaft bald wieder zusammenbrechen wird, wie 2001, als Argentinien Bankrott anmelden musste. „Natürlich kracht es wieder.“ Die Argentinier leiden, klagen jedoch kaum. Sie ahnen, was sie erwartet.

An Kirchners Versuch, das Land durch Protektionismus und die sogenannte Pesofikation (Handel nur in der Landeswährung) wieder global wettbewerbsfähig zu machen scheint gescheitert. Argentinien gehen langsam die Dollarreserven aus. Der legale Tausch von Peso in die US-Währung ist inzwischen kaum noch möglich. Der Schwarzmarkt blüht. Immobilien, die fast nur gegen harte Währungen verkauft werden, wechseln nur noch selten die Besitzer. Auslandsinvestitionen fehlen fast völlig. Die Furcht vor weiteren Enteignungen ausländischer Unternehmen, geht um. Unterdessen liegt die Präsidentin seit vergangener Woche in der Hauptstadt in der Klinik. Angeblich wurde ihr ein Blutgerinnsel im Gehirn entfernt. „Angeblich“ deshalb, weil Kirchner vor den letzten Wahlen, als es für sie nicht gut stand, offiziell mit Lymphdrüsenkrebs ins Krankenhaus kam. Dank Mitleid gewann sie die Wahl. Die Fehldiagnose wurde erst danach bekannt. Am 27. Oktober sind wieder Parlamentswahlen, und ihrer „Frente para la victoria“ (Front für den Sieg) droht ein Debakel. Eine endgültige Diagnose wird es vermutlich auch diesmal wieder erst nach der Wahl geben.

Kirchner träumt davon, die Ikone Evita Peron als Volksheldin abzulösen. Zwei Jahre hat sie noch Zeit, an ihrem Mythos zu stricken. Die Chancen stehen schlecht. Die Argentinier nennen die vielfach geliftete Präsidentin nur noch verächtlich „Botox-Evita“.

Cornel Faltin, 60, war von 1991 bis 2007 Washington-Korrespondent und betreibt heute ein Hotel in Buenos Aires