Bei der Europawahl 2014 könnten die Rechtsextreme stärkste Kraft in Frankreich werden. Die etablierten Parteien sind nervös – und ratlos

Paris. Würden heute die Wahlen zum Europaparlament stattfinden, wäre der rechtsextreme Front National in Frankreich stärkste Partei. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Ifop für das Magazin „Nouvel Observateur“ durchgeführt hat. Die von Marine Le Pen angeführten Rechtspopulisten kämen demnach auf 24 Prozent der Stimmen – und würden damit das konservative Bündnis der UMP noch um zwei Prozentpunkte übertreffen. Die regierenden Sozialisten (PS) liegen derzeit lediglich auf 19 Prozent. Die weiteren Stimmen würden auf das Zentrumsbündnis UDI-MoDem (elf Prozent), die Linksfront (zehn Prozent) und die Grünen (sechs Prozent) entfallen.

Es ist das erste Mal, dass der Front National in einer Umfrage zu einer landesweiten Wahl deutlich vor der PS und der UMP liegt. Bei der Europawahl im Jahr 2009 hatten die Rechtsextremen lediglich 6,34 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können. Die wachsende Stärke des Front National erhöht die Nervosität der etablierten Parteien und mehrt insbesondere die Furcht der regierenden Sozialisten vor einem Debakel bei den Europa- und den Kommunalwahlen, die ebenfalls im Frühjahr 2014 anstehen.

Der Generalsekretär des Front National, Steeve Briois, bejubelte das Umfrageergebnis unterdessen als „nie da gewesenes Erdbeben“. Die Meldung sei als „deutlicher Begeisterungsschub“ der Franzosen für Marine Le Pen und den Front National zu werten und als „Zustimmung zu ihrer Kritik an einer ultraliberalen Europäischen Union“. Eben diese angeblich ultraliberale Europäische Union unterdrücke die Franzosen nämlich. Schuld daran seien auch die „Parteien des Systems“, glaubt der Generalsekretär der Rechtsextremen, denn sie hätten der EU „ihre Seele“ ebenso verkauft wie das „Schicksal unserer Landsleute“ . Mit ihren Wahlabsichten bekundeten die Franzosen ihr Bedürfnis, „ihr Schicksal wieder in die Hand zu nehmen und ihrer Nation die Souveränität wiederzugeben“, schloss Briois sein Communiqué. Bei den politischen Gegnern des Front National herrscht derweil die seit Monaten anzutreffende Ratlosigkeit, wie der wachsende Zuspruch für die Protestpartei einzudämmen wäre. Die Strategien reichen dabei von „Umarmung der Positionen des Front National“ bis zu „Verdammung der FN-Anhänger als Rassisten und Faschisten“. Manche probieren auch beide Strategien gleichzeitig aus, was zu zusätzlicher Verwirrung der Wählerschaft und im Zweifel eher zu einer Kräftigung des Front National führen dürfte.

Der Sprecher der sozialistischen Fraktion in der Nationalversammlung, Thierry Mandon, hatte der Front National noch am Dienstag als „nationalfaschistische Partei“ bezeichnet. Das Umfrageergebnis wertete er nun als „traurige Bestätigung“. Die politische Antwort an die eigenen Wähler, die sich von dem Front National „auf Abwege führen lassen“, müsse noch „viel deutlicher“ ausfallen, sagte Mandon. In den letzten Monaten habe man auf Marine Le Pens Versuche, „sich reinzuwaschen“ und „zu verkleiden“, nicht ausreichend geachtet. Das darf man als eine etwas eigenwillige Interpretation des Umgangs der Sozialisten mit dem Front National und den Themen und Thesen dieser Partei betrachten. Zumindest der in der eigenen Partei nicht unumstrittene sozialistische Innenminister Manuel Valls nämlich fährt offensichtlich mit Unterstützung von Präsident François Hollande einen Kurs, der es gelegentlich den eigenen Genossen erschwert, zwischen Positionen des Front National und denen von Valls noch klare Trennlinien zu ziehen. Vor knapp zwei Wochen hatte Valls etwa in der Diskussion über die Roma in Frankreich erklärt, die Mehrzahl der Roma weigere sich, sich in Frankreich zu integrieren, und sie seien daher „nicht dazu geeignet“, in Frankreich zu bleiben.

Ihre „Berufung“ bestehe darin, nach Rumänien oder Bulgarien zurückzukehren. Die grüne Wohnungsbauministerin Cécile Duflot hatte ihrem Ministerkollegen daraufhin vorgeworfen, er bewege sich mit seinen Aussagen außerhalb des republikanischen Konsenses. Und auch aus den eigenen Reihen wurde Valls teilweise heftig kritisiert. Hollande indes weigerte sich, die Ausführungen seines Innenministers zu bewerten – was als schweigende Zustimmung gedeutet werden darf. Der Präsident ist sich darüber im Klaren, dass das Roma-Thema bei den Kommunalwahlen im Frühjahr eine gewichtige Rolle spielen dürfte, da viele Kommunen mit der steigenden Zahl von Roma-Lagern überfordert sind und der Unmut der Anwohner sich in Wählerstimmen für den Front National niederschlägt.

Gleichzeitig versuchen die Sozialisten neuerdings anscheinend, potenzielle Front-National-Wähler bei der nationalen Ehre zu packen. Premierminister Jean-Marc Ayrault erklärte am Mittwoch in einem Radiointerview: „Marine Le Pen liebt Frankreich nicht.“ Der Front National träume von einem Frankreich, das sich „hinter eine Maginot-Linie zurückziehe“. Man wisse aber aus der Vergangenheit, dass diese französischen Verteidigungsbollwerke immer durchbrochen worden seien. Er selbst wolle Frankreich verteidigen, beteuerte Ayrault – aber nicht, indem er es in die Isolation führe. „Frankreich ist kein Land, das sich verschließt, Frankreich ist ein Land, das Werte verteidigt und das eine internationale Ausstrahlung besitzt“, sagte Ayrault.

Relativ ratlos erscheinen angesichts der Erfolge des Front National auch die Vertreter der konservativen UMP. Seit Jahren kann sich die Partei nicht entscheiden, ob sie es mit einer Strategie der Abgrenzung gegen den Front National versuchen soll, oder – wie Nicolas Sarkozy dies im letzten Präsidentenwahlkampf erfolglos probierte – mit Positionen, die auch im Programm der Rechtsextremisten stehen könnten. Auf lokaler Ebene, so ergab gerade eine „Figaro“-Umfrage, ist inzwischen eine Mehrheit der UMP-Mitglieder für Zweckbündnisse mit den Rechtspopulisten. Die Stimmung in der Partei brachte der Abgeordnete Bernard Debré auf den Punkt: „Ich bin sehr beunruhigt. Ich glaube, dass alles, was wir derzeit tun, links wie rechts, dem Front National das Bett bereitet.“