Die Rebellen kämpfen gegen al-Qaida und das Assad-Regime. Sie beschuldigen die Türkei, den Islamisten zu helfen – und präsentieren Dokumente

Amuda. „Die Islamisten haben sich dort hinten im Wald verschanzt“, sagt Kommandant Schorwasch. Mit einem Funkgerät in der Hand zeigt er auf einige Baumwipfel am Rande von Alouk, einem syrischen Dorf unweit der türkischen Grenze. „Sie sind keine 700 Meter von uns entfernt.“ Plötzlich knallt ein Schuss, und das unverwechselbare Sausen einer Kugel aus einem Scharfschützengewehr ist zu hören. „Sie sind nervös“, meint Schorwasch schmunzelnd. „Besser, wir gehen in Deckung.“ Der 25-Jährige ist an diesem Frontabschnitt der Verantwortliche der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Nach dem Abzug der Regimetruppen von Präsident Baschar al-Assad haben diese Milizen kurzerhand den Schutz der Kurdengebiete übernommen. „Zum Glück“, erklärt Schorwasch, nun hinter einer hohen Mauer stehend. „Sonst wären wir längst von den Islamisten überrollt worden, und es hätte ein Blutbad gegeben.“

Mit „Islamisten“ sind vor allen Dingen die beiden Al-Qaida-Ableger Nusra-Front und Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil) gemeint. „Aber auch einige Brigaden der als moderat geltenden Freien Syrischen Armee kämpfen gegen uns“, erklärt der YPG-Kommandant. Die Islamisten und ihre Verbündeten versuchen seit etwa sechs Monaten gezielt, in die Kurdengebiete zwischen Ras al-Ain und Kamischli im Nordosten Syriens einzudringen. Die Region entlang der Grenzen zur Türkei und dem Irak liefert 60 Prozent der Ölproduktion Syriens und besitzt reiche Gasvorkommen. In Kriegszeiten ist sie von enormer strategischer Bedeutung. Die Bewohner sind nun von der Außenwelt abgeschnitten, eingeklemmt zwischen den geschlossenen Außengrenzen im Norden und den Al-Qaida-Verbündeten im Süden. Nur Schmuggelware dringt bisweilen zu ihnen.

„Wir haben die Islamisten überall geschlagen“, erzählt Schorwasch zufrieden. „Sie mussten sich an allen Fronten zurückziehen und versuchen nun, auf dem Land Stützpunkte zu errichten.“ In Alouk seien die Islamisten mitten in der Nacht mit 400 Kämpfern eingedrungen. „Wir brauchten eineinhalb Tage, bis wir das Dorf zurückerobern konnten“, sagt der YPG-Kommandant. Einer der umstehenden Soldaten, der schon 15 solcher Kämpfe hinter sich hat, spricht von „der härtesten Schlacht“, die er miterlebt habe. „Sie wollten keinen Schritt zurückweichen.“

Insgesamt seien 39 Gegner getötet worden, erzählt Kommandant Schorwasch. Die YPG habe nur sechs Mann verloren. Das Opferverhältnis falle bei anderen Gefechten ähnlich aus. Die YPG wird wie eine reguläre Armee geführt. Viele ihrer Soldaten sind erfahrene Kämpfer und waren für die kurdische Sache im Iran, dem Irak und auch in der Türkei im Einsatz. Es gibt genügend Geld, um Waffen zu kaufen. Zum Teil soll es aus dem Drogenhandel stammen. In vielen deutschen Großstädten kontrollieren Kurden den Heroinhandel.

Der Glaube radikaler Muslime ist den Kurden völlig fremd, obwohl die meisten von ihnen Sunniten sind. Ihre Traditionen sind in Glaubensdingen liberal. Hier trinkt man auch Alkohol. Der örtliche Mullah Farkat Scheichu ist natürlich gar nicht glücklich über den Alkoholkonsum, „aber jeder kann tun, was er gerne möchte“, sagt er. Der Scheich tritt für eine säkulare Gesellschaft ein. „In Syrien gibt es verschiedene Religionsgemeinschaften. Es kann keinen islamischen Staat geben, der für alle festlegt, wie sie zu leben haben.“ In den Augen der Nusra-Front würden solche Meinungen den Geistlichen zu einem Ketzer machen, der mit dem Tod bestraft gehört. Mindestens 20 Menschen sollen die Islamisten hier schon mit dem Messer geköpft haben.

„Alle Islamisten haben einen Schlüssel und einen Löffel bei sich“, erzählt der kurdische Journalist Taha Khalil. „Den Schlüssel brauchen sie“, so fährt Khalil fort, „um nach dem Märtyrertod das Tor zum Paradies zu öffnen.“ Der Löffel sei für das Abendmahl mit dem Propheten Mohammed. Ein gefangener Islamist sei hier kürzlich zum Tode verurteilt worden, weil er acht Menschen, darunter drei Mädchen, den Kopf abgeschnitten haben soll. Als letzten Wunsch habe er um ein Glas Wasser gebeten und darin mit seinem Himmelsschlüssel gerührt. Nachdem er es in einem Zug ausgetrunken hatte, wollte er davongehen – in der Überzeugung, der Trunk habe ihn unsichtbar gemacht. „Diese Leute glauben wirklich, was man ihnen erzählt“, meint Khalil. „Und das macht sie so gefährlich.“

Für ihn ist es völlig unbegreiflich, wie die Extremisten zur treibenden Kraft innerhalb der syrischen Rebellen werden konnten. Ende September vereinigten sich 13 führende Gruppen zu einem neuen Block, der damit die stärkste Militärmacht innerhalb der Opposition repräsentiert. Die Mitglieder sind überwiegend islamistische Fraktionen, darunter die Nusra-Front und Achrar al-Scham, aber auch die bislang als moderat eingestufte Liwa Tawhid aus Aleppo. Die Syrische Nationale Koalition (SNC) wird als Regierung abgelehnt und die Scharia zur einzigen Quelle des Rechts erklärt.

So irrational die Islamisten in vielen Fällen wirken mögen, bei ihrer Buchführung sind sie gewissenhaft. Die YPG konnte in einem der Lager der Nusra-Front bisher einmalige Dokumente erbeuten. Über ausländische Rekruten in den Reihen des Al-Qaida-Ablegers aus dem Irak wurde bereits viel berichtet. Nun ist zum ersten Mal eine Liste ausländischer Kämpfer aus dem Originalbestand der Miliz einzusehen: Von April bis Juli 2013 waren es danach 180 junge Männer aus Ländern wie dem Irak, Tunesien, Saudi-Arabien, Marokko oder Pakistan, die in Syrien in den Heiligen Krieg zogen. Die Liste ist keine Gesamtaufstellung aller Ausländer bei der Nusra-Front, sondern zeigt nur die Rekruten einer einzigen Filiale der Terrorgruppe. Insgesamt gibt es Tausende von ausländischen Kämpfern bei al-Nusra. Aber aus dieser Liste ist abzulesen, wer da kämpft. Denn darin sind auch persönliche Details festgehalten. Da ist etwa Abu Khalid aus Marokko, der von Beruf Bäcker ist, „aber kein Brot mehr backen, sondern kämpfen will“. Er sei ledig, von „guter Gesundheit“, und seine finanzielle Situation wird als „schlecht“ beschrieben. Im Juli kam Abu Aleis aus Tunesien, ein Elektromechaniker, ebenfalls Single, aber finanziell „gut“ gestellt. Es ist ist eine lange, traurige Liste von jungen Menschen, die alle nach Syrien gekommen sind, bereit, als Märtyrer zu sterben.

Interessant sind auch Reisepässe, die Männer der YPG bei toten Kämpfern der Nusra-Front und in deren Basen gefunden haben wollen. Hier bekommen die Namen Gesichter und Geschichten. Rabar Tarik Maaraf und Sarkaui Mohammed Sair stammen beide aus Sulaimania, einer Stadt im kurdischen Teil des Irak. Beide waren gerade 18 geworden. Freunde vielleicht, die beschlossen haben, die Welt mit Waffengewalt zu verändern. Gemeinsam reisten sie am 24. Mai nach Syrien ein. In ihren Pässen steht der Ausreisestempel der Türkei. „Die lassen alle rein“, sagt YPG-Sprecher Khalil. „Die Türkei unterstützt die Islamisten, weil sie gegen uns Kurden Krieg führen.“

Seit vier Jahrzehnten kämpft die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) gegen den türkischen Staat für das Selbstbestimmungsrecht der Kurden. Heute gibt es zwar Friedensverhandlungen, aber Ankara scheint die Kurden nicht mit allen Rechten als ethnische Minderheit anerkennen zu wollen. „Wir kämpfen für die ganze Welt“, behauptet Abedselam Ahmed vom Westkurdistanrat in Kamischli. „Alle wollen al-Qaida in Syrien loswerden, aber wir sind die Einzigen, die auch wirklich gegen die Terroristen kämpfen.“ An eine Unterstützung durch die USA oder Europa sei jedoch nicht zu denken, ergänzt sein Ratskollege Hakam Challo. „Die Türkei lässt nicht zu, dass der kurdische Erzfeind unterstützt wird“, wirft Abdelkarim Omar, der Dritte im Bunde, ein. „Obwohl wir die einzige Gruppe der syrischen Opposition sind, die echte Demokratie in einem säkularen Staat will“, meldet sich Ahmed wieder zu Wort. Die drei Männer sind Mitglieder der Partei der Demokratischen Union (PYD), dem politischen Arm der Miliz YPG.

Aber auch unter den Kurden gibt es Antipathien und viel Misstrauen. „Das sind Wölfe im Schafspelz“, behauptet Hasan Salih von der Kurdischen Einheitspartei (KUP). Der 66-Jährige meint damit die YPG und ihre Politfunktionäre. „Sie geben sich demokratisch, haben aber an Mitbestimmung kein Interesse.“

Salih kann sich nur schwer durchringen, der YPG etwas Positives abzugewinnen. „Aber angesichts der islamistischen Bedrohung bewaffnen auch wir uns“, gibt der ältere Herr zu. „Was die YPG leistet, können wir trotzdem nicht.“ Bisher ist es den kurdischen Milizen gelungen, die radikalen Islamisten abzuwehren. Die Frage ist nur, ob sie auch weiter standhalten können, nachdem sich die Islamisten zu dem neuen Bündnis zusammengeschlossen haben. Für Syriens Kurden geht es um die Existenz.