Sie kommt nach Hamburg, weil sie ihre vier Kinder von ihrem Lehrer-Gehalt in der Ukraine nicht ernähren kann. Die einzige Verbindung zu ihren Kindern: Telefonieren übers Internet.

Am 11. September 2001 steigt Nadja in einem Dorf irgendwo in der Ukraine in einen Zug, der sie in eine bessere Welt fahren soll. Am Bahnsteig stehen ihre Kinder: Sergej, 18, Daria, 17, Wladimir, 15 und Katerina, 14. Aus dem Fenster sieht sie, dass ihre Kinder auch weinen. Es ist die richtige Entscheidung, sagt sich Nadja, als der Zug losfährt. Sie weint, bis der Zug in Lemberg angekommen ist. Sie weint, als sie im Auto zwischen drei Männern sitzt. Die Männer sagen, dass sie aufhören soll zu weinen, sonst denken die Beamten an der Grenze, dass hier eine Frau in den Westen verkauft werden soll.

Dass in New York an diesem Tag Flugzeuge ins World Trade Center stürzen, erfährt Nadja aus dem Autoradio, als sie in Polen sind. Die westliche Welt verändert sich an diesem 11. September. Und auch Nadjas Welt verändert sich, aber die Terroranschläge haben nichts damit zu tun.

Nadja will nach Belgien reisen, dort lebt ihr Bruder, dort soll es Arbeit geben. Doch ihr Geld reicht nur für eine Fahrt nach Hamburg. Zehn Mark hat sie im Geldbeutel, als sie in der Hansestadt ankommt.

Einige Monate vorher. Umgerechnet 40 Euro verdient Nadja im Monat. Sie ist Lehrerin für Literatur und Geschichte. Und alleinerziehend. Ihr Mann hat sie und die vier Kinder verlassen. Die Wirtschaft in der Ukraine ist marode, der Staat auch. Monatelang bekommt Nadja kein Gehalt. Manchmal werden Wodka-Flaschen oder Schuhe verteilt statt Geld.

Nadja will, dass ihre Kinder mal studieren können. Es reicht nicht aus, dass die Familie ein eigenes Haus hat. Nadja und ihre Kinder beschließen: Mama geht ins Ausland, um Geld zu verdienen. Es ist damals im Jahr 2001 ihre gemeinsame Entscheidung. Nadja soll nur so lange bleiben, bis die Familienkasse wieder voll ist. Ein paar Monate vielleicht.

Hamburg, im Sommer 2013. „Jetzt ist sie online.“ Nadja sitzt in ihrer Wohnung vor einem kleinen Tisch, sie hat ihren Laptop vor sich, das Programm Skype läuft, sie kann sehen, wann eines ihrer Kinder im Internet ist. Jetzt ist es so weit. Nadja klickt auf die Verbindung, und dann ist sie auf dem Monitor zu sehen: Daria, ihre älteste Tochter, die in Lemberg lebt. Eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren. „War es die falsche Entscheidung, dass ich nach Deutschland gegangen bin?“, fragt Nadja. Daria antwortet: „Es war die einzig richtige Entscheidung. Wir haben alle verstanden, dass wir es anders nicht schaffen würden.“

Nadja ist in Hamburg geblieben, obwohl sie hier eigentlich gar nicht leben wollte. Ihre Kinder sind jetzt erwachsen, selbstständig. Ihre Mutter haben sie in den vergangenen zwölf Jahren kaum gesehen. Ihre Verbindung war das Telefon und später: Skype. Fast jeden Tag.

Was macht das mit einer Familie? Darüber will Nadja sprechen, denn ihr Schicksal teilen Tausende Wanderarbeiter, die nach Deutschland kommen. Es ist eine Geschichte, erzählt aus einer subjektiven Perspektive. Einer fremden Perspektive.

Die Sehnsucht nach ihren Kindern war so groß, dass Nadja kriminelle Dinge getan hat, um ihre Kinder sehen zu können. Deshalb möchte Nadja auch nicht mit ihrem richtigen Namen und ihrem Gesicht in der Zeitung stehen. Auch die Namen ihrer Kinder sind geändert.

Nadjas Plan, damals vor ihrer Ausreise 2001: Sie will nach England, doch sie bekommt kein Visum. Also versucht sie es in Deutschland – und bekommt ein Visum für drei Monate. Von Deutschland aus will sie nach Belgien.

Sie packt Kleidung in eine kleine Reisetasche, nimmt Fotos von ihren Kindern mit. Und den Roman „Rot und Schwarz“ des französischen Schriftstellers Stendhal.

Den Dobermann Rex und die Katze Sywa bringt sie zu ihren Eltern. Dort werden auch ihre Kinder leben. Das Haus leer räumen will sie nicht – vielleicht kommt sie ja zurück. Sie verlässt die Ukraine mit einer kleinen Reisetasche. Im Auto nach Hamburg lernt sie andere Ukrainer kennen, die in der Hansestadt leben. Ihre Landsleute bieten ihr eine Unterkunft an für die ersten Tage. Auch einen Job können sie ihr vermitteln.

Zwei Tage nach ihrer Ankunft in Hamburg steht Nadja im Alten Land in einem Obstgarten und erntet Äpfel. 700 D-Mark verdient sie pro Woche – schwarz. Viel Geld für sie.

Nadja wird ein Schatten-Mitglied der deutschen Gesellschaft. Sie begreift, dass es Arbeit und Raum zum Leben für sie gibt – dort, wo die Deutschen nicht arbeiten und leben wollen. Sie ist eine Illegale. Ihr Visum ist abgelaufen. Wenn Behörden sie erwischen, wird sie abgeschoben.

Jeden Tag ruft sie bei ihren Kindern an, die jetzt bei ihren Großeltern leben. Es ist die Zeit der Billig-Vorwahlen. Sie geht in ein „Tele-Café“, setzt sich in eine Kabine und wählt erst die Vorwahl, dann die Nummer ihrer Eltern. Wie läuft es in der Schule? Was machst du gerade? Wie geht es Oma? Nadja telefoniert mit jedem Kind, der Reihe nach. Sie will alles wissen, jede Nebensächlichkeit. In Gedanken lebt sie bei ihren Kindern.

Ihr Leben in Hamburg besteht aus Schuften. Nadja arbeitet erst in einem portugiesischen Restaurant, dann in einem griechischen. Sie putzt Salat, schneidet Gurken, spült dreckiges Geschirr, kellnert, putzt. Bekannte vermitteln ihr einen Job als Kindermädchen bei Hamburger Familien. Die deutsche Sprache lernte sie von den Kindern.

Bei manchen Familien kann sie wohnen. Meistens muss sie sich um ihre Unterkunft selbst kümmern. Einen Mietvertrag abschließen kann sie nicht – sie ist ja nicht mal in Hamburg gemeldet. Sie muss sich Vermieter suchen, die sie in bar bezahlt. Sie wohnt in Maschen, Harburg, Eimsbüttel. Sie wird abgezockt von einem türkischen Vermieter, der 500 Euro für ein klitzekleines Zimmer haben will. Auch ein deutscher Vermieter ist nicht besser: Er verlangt 400 Euro für einen Monat Strom. Wehren kann sie sich nicht. Ihre Abzocker könnten sie verraten.

Sie betreut bis zu 18 Familien gleichzeitig – je nachdem, wo sie gebraucht wird. Anfangs bekommt sie neun Mark pro Stunde, heute sind es zwölf Euro, schwarz. In ihren besten Monaten kommt sie auf 1900 Euro, Brutto gleich Netto.

Das Geld schickt sie ihren Kindern. Sie gibt es Busfahrern mit, die in die Ukraine fahren. Sie kennt die Männer nicht, aber sie vertraut ihnen das Bargeld an. Das Geld kommt immer bei ihren Kindern an.

Daria, die älteste Tochter, ist für die Kasse zuständig. Wenn die anderen Kinder Geld brauchen, gehen sie zu ihr. Streit ums Geld gibt es nur selten.

Geld brauchen ihre Kinder nicht nur für Essen und Kleidung. Ihr Sohn Sergej hat einen Autounfall, muss ins Krankenhaus, die Behandlung kostet viel Geld. Mama zahlt. „Sie haben mein Geld nicht verplempert“, sagt sie heute. Sie haben ihr Geld gebraucht.

Bei einem Telefonat sagt ihre jüngste Tochter Katerina, dass sie sich Klamotten gekauft hat. Die seien schön. Aber eigentlich möchte Katerina etwas anderes: „Ich brauche nichts – außer dich, Mama“, sagt sie. Katerina führt einen Kalender, auf dem sie die Tage herunterzählt, bis sie ihre Mama wiedersieht.

Ihre erste Reise nach Hause macht Nadja eineinhalb Jahre nachdem sie nach Hamburg gekommen ist. Als Illegale über mehrere Länder ausreisen und wieder zurückkommen – unmöglich. Sie muss ihre Kinder wiedersehen. Also besorgt sie sich einen gefälschten polnischen Pass. Sie schafft es, damit von Hamburg über Tschechien und die Slowakei in die Ukraine zu reisen. Eine Bekannte schmuggelt sie als Reiseleiterin in Busse, die gen Osten fahren.

Die ersten Tage zu Hause in Lemberg sind anstrengend. Sie lebt in der engen Wohnung ihrer Eltern. In ihr Haus will sie nicht – zu viele Erinnerungen. Nadja wird nachts wach und weiß nicht, wo sie ist. „Wohin gehöre ich?“, fragt sie sich oft. Von ihren früheren Arbeitskollegen distanziert sie sich mehr und mehr. Sie lebt jetzt ein anderes Leben als sie.

Aber auf das Verhältnis zu ihren Kindern hat das keinen Einfluss, sagt sie. Weil die tiefe Verbindung auch per Telefon funktioniert. Ihre größte Sorge ist: Werde ich auf der Rückfahrt nach Deutschland geschnappt?

Sie wird nicht geschnappt. Noch nicht. Also kommt sie jetzt häufiger. In den Schulferien, zur Abschlussfeier, zum Geburtstag ihrer Mutter.

Als Polen und Tschechien EU-Mitglieder werden, wird das Reisen leichter: Nadja nimmt das Flugzeug, fliegt nach Kiew. Der Flug kostet 1200 Euro. Zweimal im Jahr kann sie nach Hause kommen.

Nadja lebt fünf Jahre in Hamburg, als sie Skype kennenlernt. Das Computerprogramm, mit dem sie videotelefonieren kann. Jetzt kann sie ihre Kinder sehen. Sie sieht, wenn es ihnen gut geht und wenn es ihnen schlecht geht. Sie kann auf sie reagieren. Sie kann mit mehreren Kindern gleichzeitig sprechen. Im Nachhinein sagt sie: „Es war, als ob wir uns nie verabschiedet haben, weil wir uns jeden Tag gesehen haben.“

Als sie 2008 mit dem Flugzeug von Kiew nach Hamburg zurückfliegen will, wird ihr falscher Pass entdeckt. Sie ist froh, dass es in der Ukraine passiert, nicht in Deutschland. In der Ukraine kann man das mit Geld erledigen. 180 Euro Strafe zahlt sie, damit ist die Sache erledigt. Aber der Pass ist weg. Drei Monate bleibt sie in der Ukraine, dann bekommt sie ein Touristen-Visum für Tschechien. Über Prag reist sie wieder nach Hamburg.

Zwei Jahre sieht sie ihre Kinder nicht. Einen neuen falschen Pass will sie sich nicht mehr besorgen. „Ich war eine gute Schauspielerin, aber meine Nerven waren aufgebraucht“, sagt sie heute. Sie bekommt schließlich in der Ukraine ein Visum für Polen. So kann sie wieder heimfahren.

Sie kauft ihren Kindern Handys, um sie immer erreichen zu können. Sie schickt ihnen SMS, wenn keine Antwort kommt, telefoniert sie ihnen hinterher.

Wladimir schwänzt die Uni, versäumt eine Prüfung. Sergej feiert in der Wohnung der Großeltern eine wüste Party, die Nachbarn beschweren sich. Und Nadja, über 1000 Kilometer entfernt, bekommt es mit. Bei ihren Skype-Telefonaten können die Schwestern nicht schweigen. Die Kinder sind früh erwachsen geworden.

Sergej, der Älteste, lebt heute in Russland und arbeitet als Kraftfahrer. Daria ist Fernseh-Journalistin in der Ukraine geworden, Wladimir arbeitet für einen Auto-Zulieferer in der Ukraine, und Katerina hat Design studiert und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Das Haus der Familie sieht immer noch so aus wie 2001, als Nadja es verlassen hat. Kaufen will es niemand, also bleibt es weiter in Nadjas Besitz. Eine schwere Erinnerung an ihr früheres Leben. Sie ist bei Besuchen einige Male in dem Haus gewesen, hat die Möbel gesehen, die sie mit ihrem Ex-Mann gekauft hat. Wohlgefühlt hat sie sich nicht.

Daria, die älteste Tochter, sagt, dass sie und ihre Geschwister keine Geheimnisse vor ihrer Mutter hatten. Dass die Verbindung immer da sei – egal wie weit sie voneinander entfernt sind. „Unsere Mutter hat häufiger angerufen als Mütter, die nur 42 Kilometer weg waren“, sagt sie.

Seit zwei Jahren schickt Nadja ihren Kindern kein Geld mehr. Sie verdienen jetzt ihr eigenes Geld. „Auf einmal haben sie mich nicht mehr so gebraucht“, sagt sie. Das sei schwer gewesen, sogar traurig. Sie muss daran denken, wie sie ihre Kinder zurückgelassen hat, damals am Bahnsteig. Sie weiß noch, was ihre Kinder damals anhatten. Das Bild wird sie nicht mehr los. „Lass deine Kinder frei“, sagt ihr Mann Jozef. Sie hat sich dann ein Auto gekauft, einen gebrauchten 3er-BMW. Etwas für sich.

Nadja hat Jozef (Name geändert) vor vier Jahren kennengelernt, er kommt aus einem Balkan-Land, hat eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Sie haben in Dänemark geheiratet, dort wollen die Behörden nicht so viele Papiere sehen. In Deutschland hat Nadja gerade eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, damit sie bei ihrem Mann bleiben kann. Jetzt ist sie keine Illegale mehr.

Sie hat sich oft gefragt, warum sie damals gegangen ist. Natürlich hat sie es für die Kinder gemacht. Um Geld zu verdienen. Ihre Lehrer-Kollegen von früher bekommen heute 180 Euro im Monat, aus jeder Familie schuftet jemand im Ausland. Die Ukraine sei keine Demokratie, sagt Nadja, das zeige der Umgang mit der ehemaligen Premierministerin Timoschenko. Auch Nadja eckte früher bei ihren Lehrerkollegen an, weil sie offen ihre Meinung sagte. „Hier lebe ich in Freiheit.“

Sie sagt, dass ihr Leben hier besser sei. Obwohl sie zu Hause in der Ukraine ihre intellektuellen Fähigkeiten besser einsetzen könnte. Nadja sagt, dass es gelogen wäre, wenn sie sagte, sie würde sich hier nur für ihre Kinder aufopfern. „Ich habe es auch für mich getan.“