Ein Angriff in Damaskus fordert unzählige Tote. Waren Chemiewaffen im Spiel? Beginnt ein Umdenken im Westen?

Berlin. Die Bilder sind kaum auszuhalten: Überall liegen leblose Körper am Boden verstreut, die man mit Wasser abspritzt. Dazwischen liegen Kinder, die Ärzte verzweifelt wiederzubeleben versuchen. Es ist ein Wettlauf mit dem Tod, den die Menschen in den meisten Fällen verlieren. Es sind schon am Mittwochabend mehr als Hundert Videos, die im Internet dokumentieren, was die syrische Opposition gegen Präsident Baschar al-Assad einen „Angriff mit chemischen Waffen“ nennt.

Um drei Uhr nachts hatten syrische Regierungstruppen mit schwerem Artilleriebeschuss auf den Stadtteil im Osten von Damaskus begonnen, wo sich vor mehr als einem halben Jahr Rebellen festgesetzt haben. „Die Gegend wurde mit Raketen beschossen“, sagt Tarik, der für die Rebellen dort mit Journalisten spricht. „Und mit den Raketen kam das Gas.“ Mehr als 650 Tote habe der Angriff gefordert, erklärte die Nationale Koalition, die wichtigste syrischen Oppositionsgruppe. Tarik selbst spricht von viel mehr Menschen: „Es sind insgesamt 1228 Opfer“, berichtet er aus einer eilends eingerichteten Notklinik. „Es ist ein Massaker, das Assad an seinem Volk begangen hat.“

Wenn es wirklich Chemiewaffen waren, die diese schrecklichen Verheerungen angerichtet haben, dann wäre das eine Zäsur im syrischen Bürgerkrieg. Der amerikanische Präsident Barack Obama hatte den Einsatz von Giftgas in der Vergangenheit als rote Linie bezeichnet und vor Konsequenzen gewarnt. Viele Beobachter hatten daraus geschlossen, dass der Präsident in diesem Fall eine Militärintervention in den Krieg erwägen würde. Doch bisher stammen alle Angaben zu dem angeblichen Gaseinsatz vonseiten der Rebellen. Eine unabhängige Bestätigung gibt es bisher nicht. Die Armee von Präsident Baschar al-Assad bestritt den Einsatz von Giftgas. Deutschland, Großbritannien und Frankreich forderten die Uno-Inspektoren in Damaskus auf, die Anschuldigungen zu untersuchen. Saudi-Arabien forderte eine Krisensitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.

Russland nannte die Berichte hingegen als „Provokation“ und forderte ebenfalls eine unabhängige Untersuchung. Die „voreingenommenen“ Medien hätten wie auf Knopfdruck eine aggressive Informationskampagne gegen das Regime begonnen, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Moskau. Es sei gewiss kein Zufall, dass zeitgleich Uno-Inspekteure ihre Arbeit in Syrien aufgenommen hätten. Russland, eine Vetomacht im Sicherheitsrat, ist enger Partner der syrischen Führung.

In Syrien waren in der Vergangenheit schon mehrere Chemieangriffe gemeldet worden. Die Rebellen und Syriens Regierung beschuldigten sich gegenseitig immer wieder, verbotene chemische Substanzen eingesetzt zu haben. Am 23. Dezember 2012 meldeten die Rebellen aus Homs zum ersten Mal eine chemische Attacke. Syrische Ärzte sprachen von Atemschwierigkeiten, Nerven- und Magen-Darm-Beschwerden. Am 19. März starben 32 Menschen in Khan al-Assal westlich von Aleppo. Da sich unter den Toten auch Regimesoldaten befinden, behauptete Präsident Assad, „islamistische Terroristen“ benutzten chemische Waffen. Syrischen Staatsmedien zufolge explodierte eine von Islamisten selbst gebastelte Rakete, in deren Sprengsatz sich Chlor, CL17, befunden habe. Am 13. April werden in Scheich Maksud, einem Stadtteil von Aleppo, mehrere Menschen angeblich vergiftet. Aus einer Granate seien Rauch und Gase ausgeströmt. „Ärzte und Bewohner starben, als sie den Opfern zu Hilfe kommen wollten“, erinnert sich Dr. Safuan. „Schaum kam aus dem Mund und aus der Nase.“

Später folgten Vorfälle in Sarakeb und Damaskus, von denen die französische Regierung Blut- und Urinproben der betroffenen Opfer hielten. Im Juni verkündete Frankreichs Außenminister Laurent Fabius: „Nach Labortests besteht Gewissheit, Syrien hat Sarin-Gas mehrfach lokal begrenzt eingesetzt.“ Bei solchen Vorfällen stand immer wieder die Frage im Raum, ob nun eine Intervention in Syrien notwendig werden würde. Doch sie konnten nie von unabhängiger Seite aufgeklärt werden. Erst nach langwierigen Verhandlungen ließ das Assad-Regime dieser Tage Uno-Inspektoren einreisen. Sie untersuchen die Todesfälle von Khan al-Assal und zwei weiteren Orten. Nach den jüngsten Vorfällen in al-Ghouta wird das Uno-Team wohl auch Zugang in diese Region beantragen. Der britische Außenminister Wiliam Hague will das Thema im Sicherheitsrat vorbringen.

Für die syrische Regierung kommen die neuen Vorwürfe höchst ungelegen. Präsident Assad könnte schon mit einem Sieg gerechnet haben, nachdem seine Truppen mehrere strategisch wichtige Städte mithilfe der libanesischen Hisbollah-Miliz von den Rebellen zurückerobert hatten. Die Toten von al-Ghouta könnten die USA und europäische Staaten veranlassen, die Rebellen noch mehr als bisher zu unterstützen. Doch zunächst wird entscheidend sein, ob sich der Vorwurf des Chemiewaffeneinsatzes erhärten lässt. Er unterscheidet sich von bisherigen Meldungen in der hohen Zahl der angeblich Betroffenen und durch die außergewöhnlich vielen Videos, die von ihnen existieren.

Auch halten die Rebellen diesmal nicht Sarin für verantwortlich, sondern sprechen von einem „toxischen Gas“. Dan Kaszeta, ein ehemaliger Offizier des US-Corps für Chemiewaffen, hält nach erster Sichtung des Bildmaterials einen Einsatz bisher bekannter Kampfgase für unwahrscheinlich. Das medizinische Personal wäre bei Sarin und ähnlichen Stoffen sofort kontaminiert worden und vermutlich selbst gestorben, so Kaszeta. Dennoch: „An irgendeiner toxischen Substanz sind die Leute gestorben.“ Bisher könne man aber nur mutmaßen, worum es sich handele. „Nur Blutproben können darüber mehr Auskunft geben.“