Die angespannte wirtschaftliche Lage zwingt zu einer neuen Bescheidenheit in den traditionellen Ferienmonaten

Mailand. Jetzt im August gibt es in der westlichen Peripherie Mailands ein beliebtes Ausflugsziel: das 80 Jahre alte Freibad Lido. Das Alter sieht man dem kommunalen Schwimmbad an. Es bröckelt der Putz. Die Umkleidekabinen sind mit Graffiti übersät. Den Sprungturm gibt es nicht mehr, die Aussichtsplattform ist abgeriegelt. Bademeister Antonio Ciullo, 31, hat dennoch viel zu tun. „Früher war Mailand im August wie leer gefegt, alle waren am Meer. Jetzt bleiben viele hier“, sagt Ciullo. „Manche haben die Arbeit verloren und können sich Reisen nicht mehr leisten. Dann kommen sie eben hierher.“ Das Lido beschreibt treffend den Sommer all'italiana im Jahr 2013. Über Jahrzehnte war der Urlaub am Meer in Italien eine unantastbare Institution. Im August stiegen die Familien in die Autos und ließen die Städte hinter sich. Wochen verbrachten sie mit Kind und Kegel an der Küste. Das Land stand still und genehmigte sich eine Auszeit.

Und heute? Da brummt, braust, hupt und hämmert es in den Städten, als gäbe es den Sommer gar nicht. Viele Geschäfte sind geöffnet, auf den Straßen sausen Pkw und Lastwagen vorbei, in den Innenhöfen schwitzen die Handwerker. Die Wiesen in den Parks sind belegt. Der August 2013 in Italien fühlt sich fast wie ein normaler Monat im Frühjahr oder Herbst an. Mit dem einzigen Unterschied, dass das Thermometer 35 Grad anzeigt.

Daten und Umfragen untermauern den Eindruck. Laut Verband Federazione Italiana Pubblici Esercizi, der die Interessen von Restaurants, Bars und Diskotheken vertritt, gönnen sich dieses Jahr nur 39,7 Prozent der Italiener zwischen Juli und September Ferien. 2008 seien es noch 48,2 Prozent gewesen, schreibt der Verband, der 300.000 Betriebe mit 960.000 Angestellten vertritt. 30 Millionen Italiener blieben dieses Jahr zu Hause, teilt der Hotel- und Herbergsverband Federalberghi mit. Und wer doch in den Urlaub fahre, der gebe wenig aus. Hätten die Familien früher rund 800 Euro im Schnitt ausgeben, so seien es heute nur noch 600 Euro. „Besorgniserregend“ sei das, warnen die Verbände.

Urlaub auf Balkonien ist in Italien inzwischen angesagt. Die Bescheidenheit im Sommer ist vielleicht das klarste Indiz, wie schwierig die wirtschaftliche Situation ist. Das Land wurde durch die Finanz- und Schuldenkrise heftig getroffen. Zwischen 2007 und 2012 brach das reale Bruttoinlandsprodukt um sieben Prozentpunkte ein. Die Industrieproduktion ging um 25 Prozent zurück. Seit Sommer 2011 dauert die Rezession an. Erst für das zweite Halbjahr 2013 wird mit einer leichten Erholung gerechnet.

Die Flaute hat tiefe Spuren im Geldbeutel der Familien hinterlassen. Während die Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr um 2,4 Prozent zurückging, fiel die Kaufkraft der Bürger laut Statistikbehörde Istat um 4,8 Prozent. Die Behörde bezeichnet das Minus als „außergewöhnlich“. Seit fünf Jahren schrumpft die Kaufkraft ununterbrochen. Für viele Bürger verläuft der soziale Abstieg rasant. Armut, die dank des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg als überwunden galt, wird wieder zum gesellschaftlichen Thema. 12,7 Prozent der Familien, das entspricht 3,2 Millionen, seien relativ arm, schreibt Istat. 6,8 Prozent oder 1,7 Millionen seien es absolut. Als relativ arm gilt in Italien eine vierköpfige Familie, die im Monat mit weniger als 991 Euro auskommen muss. Als absolut arm wird eingestuft, wer das Existenzminimum nicht erreicht. Die Armutsquote, sowohl relativ als auch absolut, ist deutlich gestiegen.

Die Politik passt sich den schweren Zeiten an. Vorbei die Sommer, in denen Minister und Parlamentarier in der Karibik im azurfarbenen Wasser planschten. 2013 wird Bescheidenheit und Biederkeit demonstriert. Mit gutem Beispiel schreitet Enrico Letta, 46, voran. Der Ministerpräsident, seit Ende April im Amt, verbringe ein paar freie Tage in seiner Heimatstadt Pisa, teilt eine Regierungssprecherin mit. Pier Ferdinando Casini, der starke Mann der katholisch liberalen Partei UDC, bleibt vom 10. bis zum 25. August in Otranto, eine Hafenstadt in Apulien. „Die Ferien sind dieses Jahr etwas kürzer, weil das Parlament bis zum 9. August getagt hat“, sagt Casini.