Mit dem Ergenekon-Prozess inszeniert der türkische Regierungschef Erdogan seinen Sieg über das Militär

Berlin. Am Tag des Urteils ist die Türkei von Europa abgeschnitten. Die Innenstadt von Istanbul ist von Sicherheitskräften abgeriegelt, die Brücken über den Bosporus sind gesperrt. Wie eine Burg ist das Gerichtsgebäude außerhalb der Metropole gesichert, mit mehreren Reihen Stahlgittern und behelmten Polizisten mit Fiberglasschilden. Nichts soll den Höhepunkt dieser fünfjährigen Inszenierung stören, die Erdogan zu seinem eigenen Historiendrama stilisiert hat: den Ergenekon-Prozess. Denn was im Innern des Gerichtssaals passiert, ist in der Tat einzigartig in der türkischen Geschichte. Da wird am frühen Montagnachmittag Ilker Basbug wegen angeblicher Putschpläne zu lebenslanger Haft verurteilt, der türkische Generalstabschef der Jahre 2008 bis 2010.

Die Armeechefs waren in den Jahrzehnten seit der Gründung der türkischen Republik meist die mächtigsten Männer im Staat, in ihrer Machtvollkommenheit über allen Parteien stehend und oft genug über den Gesetzen, selbst der Verfassung. Dass einer von ihnen einmal wie ein Schwerkrimineller in den Knast wandern könnte und dann auch noch für den Rest seines Lebens, das war undenkbar in dieser Türkei. Mit dem Fall Ilker Basbug zeigt Erdogan, dass es diese Türkei nicht mehr gibt. Auch wenn es formal die Richter sind, die das Urteil fällen. Doch dass es den Prozess überhaupt gab, das hat offenkundig politische Gründe.

Ergenekon heißt angeblich das terroristische Netzwerk, dem laut Staatsanwaltschaft Basbug und 274 andere Angeklagte in dem Mammutverfahren angehört haben. Der Name bezieht sich auf ein sagenhaftes Tal, in dem die Turkvölker einst Zuflucht gefunden haben sollen. Doch die Existenz des Geheimbundes Ergenekon ist ebenso ungewiss wie die des namensgebenden Mythos. In der Anklageschrift heißt es, die Beteiligten Offiziere, Politiker und Journalisten hätten über Jahrzehnte die türkische Politik aus dem Hintergrund manipuliert. Sie sollen Anschläge befohlen und andere Terrorgruppen gesteuert haben – darunter die kurdische Arbeiterpartei PKK –, um den Staat zu destabilisieren und die Macht der Armee zu wahren. Nachdem die konservativ-islamische AKP von Erdogan 2003 an die Macht kam und begann, den Einfluss der Armee in Politik und Gesellschaft zurückzudrängen, soll Ergenekon sich zum Ziel gesetzt haben, die Krise so weit zuzuspitzen, dass sie dem Militär ein Alibi für einen Staatsstreich gegeben hätte.

Basbug soll an der Spitze dieser Machenschaften gestanden haben, daneben weitere Offiziere, die ebenfalls hohe Haftstrafen erhielten – lebenslänglich für den pensionierten General Veli Ückük, 129 Jahre für den früheren Armeekommandeur Hursit Tolon, 49 für Oberstleutnant Mustafa Dönmez. Der AKP-kritische Journalist Tuncay Özkan erhielt ebenfalls lebenslänglich. 21 Personen wurden freigesprochen. Für insgesamt 64 der fast 300 Angeklagten hatten die Strafverfolger lebenslange Haftstrafen gefordert. Doch im Verlauf der fünfjährigen Verhandlungen legten sie keinen unumstößlichen Beweis für die Existenz des Netzwerks vor. Deshalb stellen die meisten Fachleute die Seriosität des Verfahrens infrage, auch wenn niemand an der Feindschaft der Militärs gegenüber Erdogan und der AKP zweifelt.

„Es gab da sicherlich etwas – informelle Gruppen und Netzwerke, die der AKP nicht wohlgesonnen waren und in illegale Aktivitäten verwickelt waren“, sagt Yaşar Aydın, der an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin zur Türkei forscht. „Aber dass es eine Terrorgruppe namens Ergenekon gab, die zentral gesteuert wurde und andere Gruppen instrumentalisierte – das ist sehr unglaubwürdig.“ Vor allem die Vorwürfe gegen Basbug seien zweifelhaft. „Wieso soll er die Streitkräfte unterwandert haben? Er war doch schließlich ihr Chef. Das macht wenig Sinn.“ Als der Prozess begann, gab es auch positive Stimmen: Selbst Beobachter, die nicht der AKP nahestanden, sahen darin die Chance, die übermächtige und nicht immer durchsichtige Rolle der Armee in der Türkei zu untersuchen.

Tatsächlich haben Militärs im Laufe der modernen türkischen Geschichte immer wieder in die Politik eingegriffen, wenn sie das säkulare Staatsmodell des Generals Mustafa Kemal Atatürk aus irgendeiner Richtung bedroht sahen. Vor allem aber blieb die Armee seit Gründung der Republik politischer Kontrolle weitgehend entzogen. Bis Erdogan kam.

Dass es ihm bei Ergenekon um Werte und nicht um die Macht ging, wurde zusehends zweifelhaft. Im Laufe der Jahre verstärkte sich der Eindruck, dass hier ganz allgemein Kritiker der AKP ausgeschaltet werden sollten – auch Journalisten und Intellektuelle. Dass die Urteile gerade jetzt gefällt werden, liegt aber vermutlich nicht an der Regie der Regierung Erdogan. Die Gesetzeslage in der Türkei erlaubt keine Untersuchungshaft über eine Dauer von fünf Jahren hinaus. Die ersten Inhaftierten hätten also demnächst freigelassen werden müssen.

Dennoch passen die Schuldsprüche gut in Erdogans Dramaturgie. Mit Blick auf den Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi in Ägypten polterte er: „Wo sind jetzt die Vereinten Nationen? Wo sind jetzt all jene, die einen Aufruhr erzeugt haben, als die türkische Polizei in völlig gerechtfertigter Weise Wasserwerfer und Pfefferspray einsetzte, angesichts des Staatsstreichs und des Putsches in Ägypten?“ Die Botschaft ist klar: Arme islamistische Regierungen werden von einer internationalen Verschwörung gottloser Generäle und westlicher Plutokraten bedrängt. Dieser Plot wurde auch im Ergenekon-Prozess nachgespielt.