Der ehemalige US-Geheimdienstexperte darf zunächst ein Jahr bleiben. Der Amerikaner hat schon sein erstes Jobangebot bekommen

Moskau. Anatoli Kutscherena, Anwalt des ehemaligen US-Geheimdienstmannes Edward Snowden, hält eine Kopie eines Passes in die Höhe, den die russischen Behörden soeben ausgestellt haben – Snowden Edward Joseph steht dort in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Die Fernsehteams und Fotografen, die seit Wochen rund um die Uhr am Moskauer Flughafen Scheremetjewo Stellung halten, dokumentieren den Existenznachweis des Gespenstes. Denn den NSA-Enthüller selbst haben sie auch Donnerstag nicht zu Gesicht bekommen.

Einen Monat lang war das Phantom im Transitbereich von Scheremetjewo untergetaucht, und genauso unbeobachtet überquerte es die russische Grenze. Kutscherena erklärte, sein Mandant habe den Flughafen bereits verlassen. Möglich war das, so der Anwalt, weil Russland Snowden vorläufiges Asyl für ein Jahr gewährt hat. Die Bescheinigung der russischen Migrationsbehörden ist bis zum 31. Juli 2014 gültig.

Später zeigte das russische Staatsfernsehen ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie der „Whistleblower“ in ein Auto steigt. Er hat ein blaues Hemd an und trägt einen Rucksack. Die Enthüllungsplattform WikiLeaks bestätigte auf Twitter, dass der Amerikaner in Russland Asyl erhalten habe. Er werde von Anwältin Sarah Harrison begleitet. Angeblich sei er mit einem Taxi weggefahren, teilte Kutscherena mit. „Er hat in Russland Freunde, Amerikaner, die sich um seine Sicherheit kümmern werden“, sagte Kutscherena im Fernsehen. Wohin der Spionage-Enthüller gefahren ist, bleibt ein Geheimnis. Sein Anwalt sagte nur, dass er an „einen sicheren Ort“ gebracht worden sei. „Er ist der meistgesuchte Mensch auf der Erde“, sagte Kutscherena. Es gebe kein Massenmedium, das sich nicht dafür interessieren würde, wo Edward Snowden wohne. „Edward und ich, wir glauben natürlich nicht, dass Sie alle CIA-Agenten sind. Aber wir können die Informationen nicht bekannt geben, denn wir sehen, was passiert, und wir verstehen, dass seine Sicherheit bedroht ist.“

Snowden könne jetzt frei und selbst bestimmen, wo er in Russland wohnen wolle – von Wladiwostok bis Kaliningrad stehe ihm alles offen. „Er kann sich ein Hotelzimmer, eine Wohnung, ein Haus mieten oder in einer Strohhütte wohnen, er ist absolut frei. Er hat tatsächlich nicht besonders viel Geld, aber genug, um sein Essen zu bezahlen“, sagte Kutscherena. Dabei hat der Amerikaner bereits sein erstes Jobangebot: Der Chef der russischen Version von Facebook, das Portal Vkontakte, unterbreitete es. „Wir laden Edward nach Sankt Petersburg ein und würden uns freuen, wenn er sich unserem Programmierer-Team anschließen will“, schrieb Parel Durow auf seiner Seite. Ob Snowden wohl weiß, das Vkontakte mutmaßlich mit den russischen Behörden zusammenarbeitet, wie eine Zeitung unlängst berichtete?

Im Transitbereich des Flughafens hat Snowden jedenfalls angefangen, die russische Sprache zu lernen, seinen eigenen Namen in den Papieren dürfte er deshalb bereits auf Kyrillisch lesen können. Kutscherena brachte ihm Bücher von Fjodor Dostojewski und Anton Tschechow, damit der Amerikaner durch die Lektüre der russischen Klassiker mehr über das Land erfährt. Von „Schuld und Sühne“ sei Snowden „begeistert“ gewesen, sagte der Anwalt. Außerdem interessiere er sich sehr für die russische Geschichte. Snowden habe ein Buch des russischen Historikers Nikolai Karamsin verschlungen und daraufhin um das Gesamtwerk gebeten. Doch die Zeit, um alle zwölf Bände zu lesen, war ihm nicht geblieben. Die russischen Behörden entschieden für ihre Verhältnisse ungewöhnlich schnell über sein Asyl.

„Das war für ihn heute eine Überraschung“, bestätigte Kutscherena. Das vorläufige Asyl ist ein Status, der in Russland Flüchtlingsbewerbern für zwölf Monate gewährt wird, die aus humanitären Gründen nicht ausgewiesen werden dürfen. Es kann jedes Jahr verlängert werden. Nach fünf Jahren könnte Snowden die russische Staatsbürgerschaft bekommen.

Die USA fordern von Russland die Auslieferung von Snowden und wollen ihn vor Gericht stellen, nachdem er Informationen über mehrere Ausspähprogramme enthüllte. Doch Moskau hatte eine Auslieferung kategorisch abgelehnt. Der IT-Spezialist war am 23. Juni in Moskau gelandet und hatte ursprünglich vor, weiter nach Lateinamerika zu reisen. Doch die US-Behörden erklärten seinen Pass für ungültig.

Präsident Wladimir Putin hatte jüngst erklärt, Snowden könne in Russland bleiben, wenn er „unseren amerikanischen Partnern“ nicht weiter schadet. Es darf bezweifelt werden, dass Putin auf die Einhaltung dieser Bedingung beharrt. Schließlich hat die britische Zeitung „Guardian“ soeben einen neuen Schwung brisanter Informationen enthüllt, die der Amerikaner dem Blatt geliefert hatte. Sein Anwalt erklärte, dass sich Snowden an sein Versprechen halte. „Ich kann ganz eindeutig sagen, dass er aus dem Flughafen keine Dokumente an Journalisten weitergegeben hat.“ Die Dokumente, die im „Guardian“ veröffentlicht wurden, habe er bereits vorher in Hongkong übergeben.

Der Fall Snowden belastet die Beziehungen zwischen Russland und den USA. Für September ist ein Besuch des US-Präsidenten in Moskau geplant, anschließend reist Barack Obama weiter zum G20-Gipfeltreffen nach Sankt Petersburg. In den vergangenen Wochen spekulierten russische Medien darüber, dass Obama den Besuch in Moskau absagen könnte, falls Russland seine Position zu Snowden nicht verändere. Der Kreml versucht nun, die Gewährung des Asyls für den US-Enthüller herunterzuspielen. Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow bezeichnete den Fall als eine „ziemlich unbedeutende Angelegenheit“. Es habe keine Hinweise aus Washington gegeben, dass Obama seinen Besuch absagen werde.

Für Russland, das wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht, stellt das Asyl für Snowden einen Propaganda-Erfolg dar. „Was heute passiert ist, ist sehr wichtig für uns alle. Russland hat gegenüber einem amerikanischen Staatsbürger seine humanitäre Pflicht erfüllt“, erklärte Kutscherena. „Wir müssen uns nicht vor möglichen Sanktionen fürchten. Es wäre schlimmer gewesen, wenn wir das Gesetz gebrochen hätten.“

Der russische Anwalt kümmert sich nun um eine Einladung für Snowdens Vater nach Russland. „Das ist sehr wichtig für Edward, ihr Verhältnis ist eng.“ Tausende Kilometer entfernt bekannte sich der Vater soeben noch einmal zu seinem Sohn. „Er weiß, dass er das Richtige getan hat“, sagte Lon Snowden, 52, der „Washington Post“. In seinem ersten Zeitungsinterview verriet Snowden senior, Beamte des FBI hätten ihn zwei Tage nach Edwards Flucht vier Stunden lang verhört und ihn zu einem baldigen Besuch in Moskau ermuntert. Aber Lon Snowden wollte sich nicht von den US-Behörden als Handlanger instrumentalisieren lassen und entschied sich dagegen. Im Interview erzählt er, Edward sei in einer „patriotischen Familie“ in einem Vorort in Maryland aufgewachsen und „liebe dieses Land“. Was seinen Sohn bewog, Staatsgeheimnisse zu verraten, könne er nicht sagen. Edward habe bei Besuchen nie über seine Arbeit gesprochen, selbst seine Freundin nannte ihn „geheimnisvoll“.