In China beginnt das Verfahren gegen das ehemalige Politbüro-Mitglied Bo Xilai. Über die Machenschaften der Elite sollen keine Details bekannt werden

Peking. Um zehn Uhr am Donnerstagmorgen verbreitete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua als Eilmeldung, dass der Startschuss zum spektakulären politischen Schauprozess gegen den ehemaligen Politbürofunktionär Bo Xilai gefallen war. Die Staatsanwaltschaft in der ostchinesischen Provinzhauptstadt Jinan reichte vor dem dortigen Volksgericht offiziell Anklage gegen den im März 2012 entmachteten und seither aus der Sicht der Öffentlichkeit verschwundenen chinesischen Spitzenpolitiker ein. Bo war zuletzt Parteichef in dem von Jinan 2000 Kilometer entfernten Stadtstaat Chongqing. Wie Xinhua weiter berichtete, klagte der Staatsanwalt Bo wegen Bestechung, Korruption und Machtmissbrauch an. Warum als Prozessort Jinan gewählt wurde, ist unklar.

Noch hat der Prozess gegen den im Juli 64 Jahre alt gewordenen, einstigen Politstar, der zur allerhöchsten Parteiführung gehörte, nicht begonnen. Sein Verfahren kann, wie es sich im Fall des wegen Korruption zum Tode mit zwei Jahren Bewährungsaufschub verurteilten Ex-Eisenbahnministers Liu Zhijun zeigte, Wochen auf sich warten lassen. Gegen Liu wurde am 10. April der Prozess von der Staatsanwaltschaft mit einer fast gleichlautenden Anklage wie jetzt gegen Bo wegen Korruption und Amtsmissbrauchs vor Gericht eröffnet. Sein Verfahren fand erst am 9. Juni statt. Das Urteil gegen ihn erging dann am 8. Juli.

Doch der Fall Bo ist anders gelagert. Peking ging kein Risiko ein. Chinas Presse musste ihn daher schon am Donnerstag vorverurteilen. Die Chefredaktionen der staatlichen Webportale müssen von der Anklage der Staatsanwaltschaft vorab erfahren haben. Nur so ist erklärbar, dass alle staatstragenden Online-Medien von Xinhua, „Volkszeitung“, „Chinas Jugend“, „Global Times“ bis hin zum Staatsradio in einer Rekordzeit von nur 20 bis 40 Minuten nach Bekanntgabe der Anklageerhebung bereits mit ihren Kommentaren online waren. Sie begrüßten und bejubelten den kommenden Prozess als völlig korrekt und zur rechten Zeit kommend. Er sei wieder ein neuer Beweis, wie entschieden die Pekinger Führung gegen die Korruption mit Fliegen aber auch mit Tigern kämpfe. Sie beweise ihre „Energie“.

Und wer es noch nicht wusste, der wurde von den Kommentatoren belehrt: China sei ein Rechtsstaat, oder, wie die „Global Times Online“ schreibt: „Vor dem Gesetz sind alle gleich.“ Pekings Propaganda versuchte gar nicht erst, die konzertierte Aktion zu verschleiern. Ihr Sinn liegt auf der Hand: Sie wollte möglichst schnell die Meinungsführerschaft im schwer kontrollierbaren Internet übernehmen.

Die Staatsanwaltschaft nannte keine Details ihrer Anklage. Aber sie betont, dass es sich bei Bo Xilai um einen Fall von Korruption in „extremer Höhe“ und beim Machtmissbrauch um „besonders schlimme Fälle“ handele. Beide Formulierungen erlauben den Richtern, einen wegen Wirtschaftsverbrechen Angeklagten zur Todesstrafe verurteilen zu können. Doch gilt das im Fall von Bo Xilai als unwahrscheinlich. Der Sohn des Revolutionsveterans Bo Yibo, der einst zur inneren Riege um Staatengründer Mao Tsetung gehörte, dürfte mit Sicherheit der Höchststrafe entkommen. Seit den Prozessen gegen Chinas sogenannte Viererbande ist kein Politbüromitglied mehr zum Tode verurteilt worden.

Selbst die Mao-Witwe Jiang Qing erhielt 1980 ihre Todesstrafe mit Bewährungsaufschub und starb erst 1991 durch Selbstmord in der Haft. Andere wegen Korruption nach Machtkämpfen gestürzte Politbüromitglieder wie Pekings Parteichef Chen Xitong oder Shanghais Parteichef Chen Liangyu wurden beide zu jeweils unter 20 Jahren Haft verurteilt. Dennoch hat China so einen Fall wie Bo Xilai seit Beginn seiner Reformpolitik 1980 noch nicht erlebt. Er beschert der Nation einen ihrer absurdesten Politskandale und schwersten Machtkämpfe des Landes.

Von Gier, skrupellosem Kalkül und politischem Ehrgeiz getrieben, nutzte der Populist Bo seine Machtbasis zuerst in Ostchinas Dalian, dann als Handelsminister in Peking und schließlich als Parteichef von Chongqing, um Parteikarriere zu machen und seinen Aufstieg zu planen. Als KP-Führer der Stadt mit ihren 30 Millionen Menschen hat sich Bo sogar den Ruf eines Saubermanns und Partei-Linken erworben. Er zeigte sich bemüht, auch die Menschen an den wirtschaftlichen Erfolgen teilhaben zu lassen. Das machte den charismatischen Funktionär zum Idol der KP-Nostalgiker. Landesweit bekannt und auch populär wurde Bo zudem durch sein Vorgehen gegen korrupte Funktionäre.

Das Ringen hinter den Kulissen spitzte sich vor dem Ende 2012 anstehenden Generationenwechsel in der Parteiführung und Regierung zu. Bos Frau Boku Kailai wurde vergangenen August wegen Mordes an ihrem britischen Geschäftspartner Neil Heywood und Hausfreund der Familie zu lebenslanger Haft verurteilt. Chongqings Polizeichef Wang Lijun, ein Helfershelfer von Bo, der sich später gegen ihn stellte und sich in das US-Konsulat von Chengdu flüchtete, erhielt vergangenen September 15 Jahre Haft. Der Vorwurf des Amtsmissbrauchs bezieht sich auch auf Versuche Bos, diese Verbrechen vertuschen zu lassen. Vor Gericht wird von all dem nur wenig bekannt werden. Dazu wurde die neue Strafprozessordnung im Dezember 2012 vom Obersten Gerichtshof revidiert. Nach dem neu interpretierten Paragraf 183 kann das Gericht statt in einem öffentlichen Verfahren auch vorab in Klausur tagen, wenn „es zu viele Beweise und Material gibt, der verhandelte Fall sehr bedeutend und hoch kompliziert ist und sein gesellschaftliche Einfluss sehr groß“. Das Klausurverfahren nennt sich „Vorabsitzung vor einem Öffentlichen Verfahren“.

Die „Lex Bo Xilai“ wurde bereits beim Prozess gegen den Eisenbahnminister angewandt. Sein öffentliches Gerichtsverfahren und seine Verurteilung dauerten jeweils nur wenige Stunden. Die brisantesten Vorwürfe waren vom Gericht vorab intern geklärt worden und tauchten dann weder in Anklage- noch Urteilsschrift auf.

Bei Bo Xilai wird es nun kaum anders sein. Pekings neue Führung erlaubt nicht, öffentlich alle Details im Fall des gestürzten Spitzenfunktionärs aufzudecken. Bo, so sickerte über informierte Anwälte durch, soll nun wegen einfacher Korruption in Millionenhöhe und Amtsmissbrauchs zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden. Die Causa werde so zum persönlichen Betriebsunfall eines vom redlichen Weg abgekommenen Politstars, aber nicht zum Problem des Systems.