Behörden verschweigen Zwischenfall auf Pekings Flughafen und kämpfen gegen die Verbreitung im Netz, doch sie stehen auf verlorenem Posten

Peking. Der erste Hinweis kam von einer mehr als 1000 Kilometer entfernt im Nordosten Chinas reisenden Kollegin. Sie rief an: „Am Pekinger Airport soll es am Terminal 3 (T3) eine Explosion gegeben haben. Ist da was dran?“ Ihre chinesische Fahrerin, die auf ihrem Handy neue Mikroblogs las, habe ihr das gerade gesagt.

Es war Sonnabend gegen 18.45 Uhr. Fehlanzeige auf breiter Medienfront: Pekings Staatsfernsehen, die Radiosender bis hin zu den offiziellen Webnachrichten berichteten alle nicht von dem Ereignis.

Ganz anders ging es auf den „Weibo“ genannten Microblog-Seiten im Internet-Großportal Sina.com zu. Auf die Stichworte „Explosion“ und „T3“ hin öffneten sich in den „Weibo-Topnachrichten“ Dutzende Online-Fenster voller Fotos und Kurztexte von Hobbyreportern und Augenzeugen.

Mikroblog um Mikroblog verdichteten eine dramatische Nachricht: Am Ausgang B des Pekinger Flughafens hatte um 18.24 Uhr der 34-jährige chinesische Staatsbürger Ji Zhongxing im Rollstuhl eine plastikumhüllte Packung zur Explosion gebracht. Der Behinderte hielt sie in der linken Hand seines hochgestreckten Armes. Er hatte vorher mit Flugblättern um sich geworfen und laut gerufen: „Ich habe eine Bombe. Haltet Abstand.“ Als ein Flughafenpolizist auf ihn zueilte, zündete er das Paket. Die laut knallende Detonation des Feuerwerk-Schwarzpulvers verletzte Ji am Arm, warf seinen Rollstuhl um, richtete aber sonst wenig Schaden an. Panik brach dennoch aus.

Passanten in dem 2008 zu den Olympischen Spielen eröffneten Internationalen Terminal, von dem auch die Lufthansa abfliegt, hatten den wild gestikulierenden Mann zuvor mit ihren Handys fotografiert. Nun stellten sie ihre Fotos als Mikroblogs ins Netz. „Mild_Luna“, deren Aufnahmen Stunden später gelöscht wurden, war „eine Minute nach dem Knall“ online. 45 Minuten nach der Explosion, kurz nach 19 Uhr, stand schon alles über den Täter online, sein Name und seine Herkunft aus einem Bauerndorf bei der Stadt Heze in Ostchinas Shandong. Einer der Augenzeugen hatte wohl ein Flugblatt mitnehmen können, bevor die Behörden sie einsammelten.

Nun stand auch die Adresse des Blogs von Ji Zhongxing im Netz. Er schildert darin seine Leidensgeschichte. Der Bauer hatte sich als Wanderarbeiter von 1999 an in Südchinas Billiglohnzentrum Dongguan bei einer Fabrik verdingt. Dann hatte er sich ein Motorrad-Taxi zugelegt, um sich mit Nachtfahrten ein Zubrot zum kargen Lohn zu verdienen. Am 28. Juni 2005 wollte ihn eine Verkehrspolizeistreife um zwei Uhr früh anhalten. Er fuhr ihr davon. Die Polizei hätten Hilfswächter zur Verfolgung mobilisiert. Diese stoppten ihn und verprügelten ihn mit Eisenstangen so schwer, dass er querschnittsgelähmt wurde. Seither kämpfte Ji um Entschädigung für Krankenhauskosten und zerstörtes Leben, flehte dreimal vergebens als Bittsteller Peking Behörden um Hilfe an. Der Zähler seiner Blogseite lief am Sonnabend bei mehr als 100.000 Besuchern innerhalb von nur einer Stunde heiß. Die Zensur schaltete den Blog ab.

Flughafenbehörden und Polizei reagierten weiter hinhaltend. Um 19.13 Uhr gab die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua ihre erste einzeilige Meldung ab, wonach es zu einer „lauten Explosion am Terminal T3“ gekommen sei. Eineinhalb Stunden später nannte Xinhua dann Einzelheiten und die Identität des Täters, als alles schon online bekannt war.

Peking mag solche Fälle nicht ausbreiten, schon wegen ihrer Auswirkungen auf den Tourismus, aus Angst vor Nachahmern oder weil sie nicht zu Chinas Traum von der harmonischen Gesellschaft passen. Mikroblogs und Internet aber zwingen die staatliche Nachrichtenzensur zum Rückzug. Der glimpflich verlaufende Bombenprotest am Flugplatz unterstreicht als Paradebeispiel, wie sehr das staatliche Nachrichtenmonopol bereits unterhöhlt ist, wie passiv es reagiert.

Immer schwerer fällt es den Behörden, Nachrichten über Umweltskandale, Arbeitsunfälle, Nahrungsmittelvergiftungen, Funktionärskorruption oder umstrittene Bauvorhaben zu vertuschen.

Bürger wollen nicht nur sofort alles darüber wissen, sondern lassen sich von Bürgerinitiativen auch zu Protesten mobilisieren. Die neue Technologie liefert ihnen ein Medium, das ihnen der Staat mit seiner Kontrolle über Fernsehen, Radio und Zeitungen bisher vorenthalten konnte.

Das bereitet einem Regime immer mehr Kopfschmerzen, dessen Propaganda traditionell die Nachrichtenverbreitung kontrollieren will und zensieren lässt.

Peking verstärkt seine Internet-Firewalls, zwingt Blogger, sich unter Echtnamen anzumelden, lässt Gesetze gegen sogenannte Gerüchteverbreiter verschärfen oder statuiert drastische Verurteilungen. Doch die Behörden, die die Öffentlichkeit in Unmündigkeit halten sollen, kämpfen auf verlorenem Terrain, solange sie Chinas Bürger nicht vollends den Zugang zum Netz kappen.

Peking tut das Gegenteil und steht so vor der Quadratur des Kreises. Das stellt indirekt auch der neu erschienene Halbjahresbericht der amtlichen Internetforschungsgesellschaft „China Internet Network Information Center“ (CNNIC) fest. Der Siegeszug der neuen Kommunikationstechnologie ist nicht aufzuhalten. Bis Ende Juni 2013 hatten 591 Millionen Chinesen oder 44 Prozent der Bevölkerung Internetzugang. 464 Millionen benutzten dafür ihr Handy oder andere mobile Geräte, sechs Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

Auch stieg der Anteil der Internetgemeinde, die über ihr Handy „aktuell online“ kommuniziert, von Ende 2012 bis Juli 2013 von 83,9 auf 85,7 Prozent. CNNIC stellt klar, dass diese Nutzer Online nutzen, um sich immer öfter allumfassend zu informieren. Der Anteil, derjenigen etwa, die ihre Handys gezielt nutzen, um etwa Online-Nachrichten zu lesen, stieg von Ende 2012 bis Juli 2013 von 58.3 Prozent auf 67.6 Prozent. Die Hälfte (49,5 Prozent) aller Nutzer lesen oder schreiben auch Mikroblogs über Handy.

Ende April waren 1,14 Milliarden Handys registriert, von denen fast die Hälfte Fotos und Filme aufnehmen und online verschicken kann. So kann zumindest in allen urbanen Zentren Chinas heute kein Ereignis mehr unbemerkt über die Bühne gehen. Als Mikroblogger wird so jeder Augenzeuge zum potenziellen Reporter.