Das langsamere Wachstum macht aber viele nervös. Jetzt stellt der Premier klar, wo die „rote Linie“ ist

Peking. China, die Lokomotive der Weltwirtschaft, verliert weiter an Dampf. Das Wachstum der zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde hat sich im ersten Halbjahr auf 7,6 Prozent abgeschwächt, nachdem die Wirtschaftsleistung bereits 2012 nur noch um 7,8 Prozent gestiegen war – so wenig wie seit 1999 nicht mehr. Im ersten Quartal 2013 hatte sich der Zuwachs auf 7,7 Prozent verlangsamt, im zweiten Quartal dann auf 7,5 Prozent, sagte der Sprecher des Staatlichen Statistischen Amtes, Sheng Laiyuan. Er begründete die schwächere Entwicklung mit dem weiterhin „schlechten Zustand“ der Weltwirtschaft. Besonders Europa hätte Chinas Exporte einbrechen lassen.

Zudem wirkte sich die von Peking begonnene Umstrukturierung des alten Wachstumsmodells aus. Währungsverluste durch die Aufwertung des Renminbi und höhere Arbeitskosten machten die Unternehmen weniger wettbewerbsfähig. Die Industrie scheint dies am stärksten zu treffen, ihr Wachstum fiel deutlich ab: Im ersten Quartal 2013 legte sie nur noch um 9,5 Prozent zu, das waren 2,1 Prozentpunkte weniger als im ersten Quartal des Vorjahres. Für das erste Halbjahr 2013 weist das Statistische Amt 9,3 Prozent Wachstum aus. Im Einzelmonat Juni lag es bei 8,9 Prozent. Die Zahlen weckten in Peking Befürchtungen, dass Chinas Wirtschaft doch noch eine harte Landung droht. Pekings Politiker weisen das weit von sich. Statistikchef Sheng sagte, dass sich das Wachstum insgesamt „stabil“ behauptet habe: „Wir liegen innerhalb des uns gesetzten Ziels von 7,5 Prozent.“ Sheng bezeichnete das schwächere Wachstum als „normalen Vorgang“, den die Regierung erwartet habe und der sie nicht aus „der Ruhe bringt“. Langfristig gesehen „ist diese Entwicklung vorteilhaft für uns. Wenn wir in wenigen Jahren zurückblicken, werden wir erkennen, wie richtig unsere Entscheidungen waren.“

Nach den Hiobsbotschaften über die sich verschlechternde Wirtschaftslage in den vergangenen Wochen, der Konfusion über das Ausmaß der Verschuldung der Provinzen, den Zahlungsproblemen der Banken sowie sich widersprechenden Aussagen chinesischer Wirtschaftspolitiker warb Sheng auffallend bemüht um neues Vertrauen in die Dynamik und das Potenzial der chinesischen Wirtschaft: „Die Zentralbank hat gerade festgestellt, dass es Chinas Banken nicht an Geld fehlt und dass die Qualität der Einlagen hoch ist. Die Rate an schlechten Krediten lag bei den Geschäftsbanken im ersten Halbjahr bei einem Prozent.“ Sheng wich auf seiner Pressekonferenz in Peking von der üblichen Verlesung trockener Zahlen ab. Es bekannte, dass er Befragungen durchführe und zitierte aus der jüngsten Online-Umfrage seines Amtes unter 250.000 großen und mittleren Unternehmen. Zwei Drittel hätten sich „optimistisch“ über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung geäußert.

Das zeige, dass die Unternehmen „die Lage positiver sehen als wir“. Chinaspezifische Antriebskräfte würden dafür sorgen, dass es „uns morgen noch besser als heute geht“. Sheng nannte die rasche Urbanisierung und die Nachfrage nach Wohnraum, Verkehrssystemen und Dienstleistungen als Antriebskräfte. Unter den heute 700 Millionen Städtern lebten 170 Millionen unterversorgte Wanderarbeiter. Starkes Wachstum generiere sich aus der Überwindung der regionalen Unterschiede.

Zentralchinas Provinzen hinkten den ostchinesischen Küsten- und Ballungsgebieten in ihrer Entwicklung mindestens fünf Jahre und die westchinesischen Regionen sogar zehn Jahre hinterher. Hinzu kommen Chinas Millionenheere an Verbrauchern. Sie stellten sich gerade von bisher einfachen Bedürfnissen auf immer vielfältigeren Konsum vom Tourismus bis hin zur IT-Wirtschaft um. Als Beispiel für den angeblich noch unausgeschöpften chinesischen Markt nannte Sheng ausgerechnet die Automobilindustrie, die derzeit Massenstaus in allen Großstädten auslöst. Zur Freude deutscher Anbieter wie VW oder BMW, die in China auch im ersten Halbjahr zweistellig wachsen konnten, sieht der Statistikchef noch lange kein Ende des Booms. China sei mit Autos unterversorgt, erklärte er. Auf 100 Familien kämen erst 21 Pkw. In den USA seien es dagegen 220 Autos und in Japan oder den reichen Ländern Europas 150. Allein der Verkauf von SUV-Modellen in China sei im ersten Halbjahr um 55,7 Prozent gestiegen.

Die Zuverlässigkeit der Zahlen, die China derzeit veröffentlicht, wurde zuletzt auf eine harte Probe gestellt. Am Sonnabend erst korrigierte die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua ihre eigene Meldung vom Vortag. Finanzminister Lou Jiwei hätte gesagt, dass er das Wirtschaftswachstum für 2013 bei sieben Prozent sehe. Auch diese Zahl sei keine Untergrenze mehr. Nach turbulenten Reaktionen aus dem Ausland ließ Lou alles widerrufen: „Es besteht kein Zweifel, dass China 2013 auf ein Jahreswachstum von 7,5 Prozent kommen wird.“ Einer der Gründe für den Rückzieher: Premier Li Keqiang hatte am Mittwoch öffentlich bestätigt, dass er das Wirtschaftswachstum nicht unter die „rote Linie“ fallen lässt. Er werde ebenfalls nicht erlauben, dass die Teuerung oder die Arbeitslosigkeit diese Grenze überschreite. Das chinesische Wirtschafts-Wochenmagazin „Economic Observer“ berichtete, welche „roten Linien“ der Premier für 2013 meinte: 7,5 Prozent Wirtschaftswachstum, maximal 3,5 Prozent Inflation und eine Arbeitslosigkeit von unter 4,6 Prozent.