Britischer Geheimdienst sammelt weltweit Daten. Durch die Abhöraktionen geraten die Freiheitsrechte ins Rutschen

London. Wenn die jüngsten Enthüllungen des flüchtigen amerikanischen Geheimdienstangestellten Edward Snowden einen Erkenntniswert mit sich gebracht haben, dann diesen: Der rasante Fortschritt der Kommunikationstechnologien sorgt auf der Seite der Sicherheitsdienste dafür, dass die Anstrengungen verdoppelt wurden, dieser Entwicklung immer um eine Nasenlänge voraus zu sein. Dabei aber kommt das Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Allgemeinheit und der Sicherung der Freiheitsrechte mehr und mehr ins Rutschen. Anfang Juni waren es die „Washington Post“ und der britische „Guardian“, die mit den Enthüllungen des amerikanischen Prism-Überwachungsprogramms der amerikanischen National Security Agency (NSA) für Furore sorgten. Mit seinem jüngsten Vorstoß im „Guardian“ nimmt sich Snowden Großbritannien vor, und welchen Level der Spähmöglichkeiten die Analysten im Government Communications Headquarters (GCHQ), dem Abhördienst der britischen Regierung, erreicht haben.

Mit dem Codenamen „Tempora“ wird eine Methode beschrieben, jetzt auch die transatlantischen Glasfaserkabel, über die heute der Großteil des globalen Internetverkehrs läuft – seien es Telefonate, E-Mails, soziale Netzwerke oder das Einklicken in Websites – anzuzapfen, zu speichern und zu analysieren. Großbritannien ist nicht nur Drehscheibe des internationalen Datenverkehrs, weil hier die Kabel einlaufen und die Daten dann global weitergeleitet werden – es ist auch das Land mit einer weniger rigorosen Überwachungskultur als in den USA, weshalb die NSA eng mit den Briten zusammenarbeitet und schon heute 250 amerikanische Analysten sich den 300 britischen zugesellen, die mit „Tempora“ befasst sind.

An 200 dieser Glasfaserkabeln haben die Dienste bereits sogenannte probes angebracht, Abhörpunkte, die man in einer früheren romanhaft angehauchten Zeit „Wanzen“ genannt hätte, und die es heute ermöglichen, zehn Gigabytes pro Sekunde, das Datenvolumen jedes einzelnen dieser Kabel, abzuschöpfen. Pro Tag werden damit 21.6 Petabytes an Informationen in den GCHQ-Schoß gespült, aber da dies eine für Otto Normalverbraucher schier unvorstellbare Größenordnung darstellt, hat der „Guardian“ einen handlichen Vergleich herabgezogen: Es entspräche, sagt die Zeitung, dem 192-Fachen des gesamten Buchbestandes der Britischen Nationalbibliothek.

Vieles davon sind „Metadaten“ – etwa Informationen über wer mit wem wann telefoniert oder an welche Mitempfänger oder E-Mail-Kopien geschickt hat. Sie werden durch einen Filter aussortiert und gelten nicht als vorrangig interessant, werden auch nicht über die üblichen 30 Tage hinaus gespeichert. Worauf es den „Sammlern“ ankommt, sind die „targets“: gezielte Adressen der Recherche, wobei natürlich auch Metadaten zu solchen werden können, wenn ein Auswerter die richtigen zwei plus zwei zu addieren versteht.

Die britische Gesetzgebung untersagt eine solche routinemäßige Überwachung von Bürgern des eigenen Landes, verlangt vielmehr, dass mindestens ein Ende des Datenaustausches im Ausland liegt. Zum ersten Mal also kann die Abhörzentrale auch heimische Kommunikation einsehen, da diese dank des Glasfaserträgers eine überseeische Route nimmt. Das legt sofort eine offensichtliche legislative Schwachstelle bloß, weil das internationale Leitungsnetz die technische Bedingung „ins“ oder „aus dem“ Ausland leicht erfüllt, auch bei zwei Partnern, die nur auf heimischen Boden kommunizieren. Die massive Sammlung so vieler Daten unterliegt laut Auskunft der Zeitung den drei Suchkriterien „Terrorismus“, allgemeine „Kriminalität“ und „wirtschaftliches Wohlergehen“. Der letzte Punkt ist von besonderem Belang, diente er doch schon während des Gipfeltreffens der G20 2009 in London als uneingestandene Legitimation dafür, Delegationen der Teilnehmerländer auszuhorchen, als es dem damaligen britischen Premier Gordon Brown darum ging, seinen Plan zur Rettung des internationalen Finanzsystems zur Geltung zu bringen.

Aber auch zur Bekämpfung der Kriminalität und des Terrors hält „Tempora“ Möglichkeiten bereit, die weit über das hinausgehen, was die britischen Gesetze erlauben. Bisher gilt: Will die Polizei einer Verdachtsspur folgen, muss sie im Innen- oder Außenministerium die Erlaubnis zu einer Abhörmaßnahme erwirken. Diese Prozedur wird vereinfacht: die Ermittler bitten GCQG, vorhandene Kommunikation des Verdächtigen einzusehen, und diese Information gilt dann als Grundlage des Ersuchens um Beschattung. Außenminister William Hague sagte, der GCHQ halte sich immer an britisches Recht.

Die Bundesregierung pocht auf rasche Aufklärung. „Treffen die Vorwürfe zu, wäre das eine Katastrophe“, erklärte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Der Enthüllungsbericht lese sich wie das Drehbuch für einen „Albtraum à la Hollywood“. Die Opposition schlug ebenfalls Alarm. „Die Vorwürfe klingen so, als ob der Überwachungsstaat von George Orwell in Großbritannien Wirklichkeit geworden ist“, sagte SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann.