Popularität des türkischen Premiers Erdogan und seiner Partei nach aktueller Umfrage deutlich gesunken. Neue Proteste angekündigt

Istanbul. Die türkische Regierung hat der Protestbewegung erstmals mit einem Einsatz der Armee gedroht. Falls es nötig sei, würden auch die Streitkräfte eingreifen, sagte Vize-Regierungschef Bülent Arinc am Montag vor Fernsehkameras. „Die Polizei ist da. Wenn das nicht reicht, die Gendarmerie. Wenn das nicht reicht, die türkischen Streitkräfte“, sagte Arinc. Die Regierung werde alles Nötige unternehmen, um das Gesetz durchzusetzen. Zwei Gewerkschaften und mehrere Berufsverbände hatten zu Streiks und Demonstranten aufgerufen. Die Polizei ging wieder massiv gegen regierungskritische Demonstranten vor und hielt sie am Nachmittag davon ab, zum Taksim-Platz zu gelangen. In Istanbul und Ankara wurden fast 600 Menschen festgenommen, wie Mitarbeiter der jeweiligen Anwaltskammern sagten.

Die landesweite Protestwelle in der Türkei hatte sich vor mehr als zwei Wochen an der brutalen Räumung eines Protestlagers im Gezi-Park entzündet. Die Regierung plant dort den Nachbau einer osmanischen Kaserne mit Wohnungen, Geschäften oder einem Museum. Inzwischen richten sich die Demonstrationen aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des islamisch-konservativen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Die Popularitätswerte Erdogans und seiner Regierungspartei AKP beginnt unter den Auseinandersetzungen zu leiden. Eine Oppositionszeitung hatte eine Umfrage veröffentlicht, wonach die AKP nur noch auf 38,5 Prozent der Wählersympathien zählen könne, und ein islamisch gesinntes Medium hatte gleich darauf „bewiesen“, dass es immer noch 50 Prozent seien. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, dass die Umfragen nicht objektiv seien.

Nun aber berichtet ausgerechnet die reformislamische Zeitung „Zaman“ in ihrer englischsprachigen Ausgabe breit über eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts MetroPoll, wonach der brutale Polizeieinsatz und Erdogans aufwiegelnde, konfrontative Krisenstrategie sowohl ihm selbst als auch dem Ansehen seiner Partei geschadet haben. Demnach erhält die AKP derzeit eine Zustimmung von 35 Prozent. Wäre das ein Wahlergebnis, so wäre sie immer noch bei Weitem die stärkste Kraft im Land, aber es wären elf Prozentpunkte weniger als ihre Beliebtheitswerte vor einem Jahr. Die Oppositionsparteien CHP und MHP hätten demnach zusammen etwas mehr als die AKP, rund 37 Prozent.

Noch vor wenigen Wochen hatten unabhängige Beobachter die Partei bei 45 Prozent gesehen. Erdogans persönliche Beliebtheit sank im Jahresvergleich um sieben Prozentpunkte. Der Umfrage zufolge sagte etwa die Hälfte der Befragten, die Regierung werde zunehmend repressiv und autoritär. Mehr als 54 Prozent sagten, die Regierung mische sich in den privaten Lebensstil der Menschen ein – was Erdogan immer vehement bestreitet, um dann zu sagen, die Leute sollten Buttermilch statt Bier trinken, Braunbrot statt Weißbrot essen, und fünf Kinder haben.

Eine Mehrheit von 53 Prozent gab an, dass die Presse in der Türkei nicht frei sei. Fast 47 Prozent sagten, sie hätten Angst, öffentlich ihre politischen Meinungen zu vertreten. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent sagte, die Verantwortlichen für die Polizeigewalt müssten zurücktreten. Und, beunruhigend für die Regierung: Mehr als die Hälfte der Befragten (51,7 Prozent) gab an, dass die Ereignisse ihre Wahlabsicht für die kommenden Wahlen beeinflusst hätten. Die Unterstützung für Erdogans Pläne, ein Präsidialsystem einzuführen, mit ihm selbst als Präsident, sank von 35 auf 31 Prozent. Und sogar die relative Mehrheit derer, die sich selbst als AKP-Wähler bezeichneten, lehnten sein Bau-Projekt am Taksim-Platz ab (44 Prozent). Ebenso groß ist der Anteil derer, die im politischen Spektrum keine Partei sehen, die ihren Ansichten wirklich entspreche: Sie gaben an, das Land brauche eine neue Partei.

Wo aber steht die Gülen-Bewegung, deren Sprachrohr „Zaman“ und die englischsprachige „Today’s Zaman“ sind? Sie hat in der letzten Zeit oft Erdogan kritisiert, hingegen nie ein schlechtes Wort über Staatspräsident Abdullah Gül verloren. Der ist der Umfrage zufolge denn auch der bei W0eitem beliebteste Politiker des Landes, mit 75 Prozent Zustimmung. Erdogan steht bei 53 Prozent – eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew hatte ihm erst im März 62 Prozent attestiert. Bei alldem vertrauen die Wähler immer noch der AKP und ihren Politikern mehr als jeder Oppositionskraft. Das Problem, das sich für Erdogan aus diesen Werten abzeichnet, dürfte eher innerparteilich sein. So lesen sich auch andere Kommentare in diesen Tagen bei „Today’s Zaman“: Ja, Erdogan werde immer autoritärer, schreibt Kolumnist Sahin Alpay, aber die nun – dank der Politik der AKP – demokratischer gewordene Gesellschaft werde das nicht akzeptieren, und „die AKP selbst auch nicht“. Und Emre Uslu stellt fest, dass die demokratischen Standards in der Türkei seit Erdogans größtem Wahlsieg im Jahr 2011 ständig gesunken seien.

All das deutet auf ein Ringen im islamischen Lager hin, das nach außen am sichtbarsten wurde, als Erdogan zu Beginn der Krise für einige Tage ins Ausland verreiste. Da positionierte sich insbesondere Präsident Gül fast entgegengesetzt zu den Äußerungen Erdogans, und demonstrierte, wie man versuchen kann, Konsens zu bilden.